Anmerkungen zu: Michael Seemann, „Die Globale Klasse. Eine andere
Welt ist möglich – aber als Drohung“ Der Tagesspiegel 25.10.2016,
http://www.tagesspiegel.de/politik/die-globale-klasse-eine-andere-welt-ist-moeglich-aber-als-drohung/14737914.html
(aufgerufen am 4.11.2016)
(in German language only) von/by Dr. Christian Heinze
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pro-re-publica.eu 2016 11 04
Seemann stellt in seinem Beitrag fest, das Bürgertum habe die
"Deutungshoheit" verloren.
Das Stichwort
„Deutungshoheit“
ist ebenso modern wie widersinnig. Bedeutung ist objektiv, sie ist richtig
oder falsch. Eine individuell oder einem Organ zuzuordnende Hoheit darüber
kann es nicht geben. Allenfalls ist eine Art Definitionshoheit vorstellbar.
Die "Hoheit" oder Fähigkeit, Begriffe allgemeinverbindlich zu definieren
hat aber allein das gesamte Kommunikations-Publikum: was sich durchsetzt,
gilt. Andererseits ist niemand gehindert, Vorschläge zu machen. Um Aussicht
auf Durchsetzung zu haben, wird er sie begründen müssen, denn die
Durchsetzung hängt allein von der Akzeptanz des Publikums ab. Auf die Dauer
zeigt sich, welche Definition der Erkenntnis oder Beschreibung besser dient.
Man kann sich auch in einer Gruppe auf eine Definition und Deutungen einigen,
die sich ausserhalb der Gruppe nicht durchgesetzt hat. Eine "Hoheit" ist
damit nicht verbunden. An anderer Stelle spricht Seemann verständlicher von
kultureller Hegemonie (des Bürgertums), die allerdings näherer Analyse
bedürfte und für die wenig daraus herzuleiten wäre, wenn sie - wie Seemann mit
wenig Überzeugungskraft assoziiert - als „nationale Souveränität“ erinnert
würde. Vielleicht meint Seemann, die Definitionen des Bürgertums taugten nicht
und seine Deutungen überzeugten nicht. Das setzt ein deutendes Bürgertum voraus.
Wenn es das gibt oder jemals gab, wäre allein die Frage sinnvoll, ob es richtig
oder falsch deutet oder gedeutet hat (in unserer Atmosphäre hängt der Vorwurf,
es habe im eigenen Interesse missdeutet). Das kann jedenfalls nicht für das
gesamte Bürgertum und alle seine Deutungen einheitlich beantwortet werden (vgl.
die unten zu behandelnden Äußerungen von Seemann zu „linken“ Ansichten). Ob
„bürgerliche“ Deutungen zutreffen oder nicht, kann nur mit Gründen für und
gegen bestimmte Deutungen diskutiert werden. Daran fehlt es meist bei
Äußerungen wie denen von Seemann, und sie fehlen auch in seinem Beitrag.
Seemann spricht von einer neuen, dritten „globalen Klasse“, die sich
„kulturell stabilisiert“ habe und gegen die Arbeiter und Bürger kämpfen, diese
ängstigen. Sie soll dem Bürgertum entsprungen sein (das - siehe oben - gegen sie
kämpft), aus Informationsarbeitern bestehen, sich durch Jobwechsel auszeichnen,
städtisch geprägt, homogen und sozial vernetzt sowie mächtig sind, Diskurs
beherrschen und für Wirtschaft, Politik und Moral Standards setzen, Produktivkraft
kontrollieren und „als Information verallgemeinern“. Nur einige Mitglieder dieser
Klasse sollen reich sein, Großkapitalisten gehören dazu, und einige so zugehörige
nutzen ihren Reichtum, um ihn „in diskursives Kapital zurückzuverwandeln“. Die
Klasse betreibe „Gentrifizierung“, bringe die westlichen Nationen durcheinander.
Als Gentrifizierung (engl. gentry [dʒɛntri] „niederer Adel“), auch Gentrifikation,
wirdnach "Wikipedia" der sozioökonomischen Strukturwandel bestimmter großstädtischer
Viertel im Sinne einer Abwanderung ärmerer und eines Zuzugs wohlhabenderer
Bevölkerungsgruppen bezeichnet. Parallel dazu steigen die Wohnpreise.
Unter einer Klasse hat man wohl eine Gruppe von Menschen gemeinsamer Interessen und
Interessen-Gegnerschaft vorzustellen, die ein Mindestmaß an - sei es auch nur
dauerhaft-spontan organisiertem - gleichgerichteten Denken und Handeln von anderen
Klassen unterscheidet.
Eine
„globale Klasse“ glaubt Ralf Dahrendorf, „Die globale Klasse und die neue
Ungleichheit“, in: Mererkur, November 2000, 54. Jahrgang, Heft 619, S. 1057-1068, in
jenen entdeckt zu haben, die die Produktivkraft der Information kontrollieren. Auf
Dahrendorf beruft sich der hier kommentierte Beitrag von Seemann.
Die Tauglichkeit der von Seemann genannten Merkmale einer „globalen Klasse“ für eine
Gruppenbildung ist schwer zu erkennen. So wird offensichtlich nicht die gesamte
Produktivkraft von einer Klasse kontrolliert oder verallgemeinert. Womöglich meint Seemann
speziell die Produktivkraft der Information. Offensichtlich wird aber „Die Produktion“
oder „Die Information“ nicht durch eine Klasse sondern es werden bestimmte, sei es
umfangreiche Produktionseinrichtungen und Informationen durch vielfältige höchst
unterschiedliche, miteinander konkurrierende oder kämpfende Personen und Mächte
kontrolliert oder verallgemeinert, zu denen insbesondere auch Arbeiter und Bürger
maßgeblich gehören. "Wissen ist Macht" galt schon immer. Auf Klassen lässt sich
das nicht beshränken.
Seemann bietet auch Anmerkungen zu einzelnen Themen, deren
Zusammenhang
mit seinen Deutungshoheit oder eine globale Klasse betreffenden Thesen nicht leicht
zu erkennen ist.
Seemann muss wohl dahin verstanden werden, dass als Ursachen für die als
Rechtsruck
wahrgenommene Bewegung in der politischen Landschaft Frustration, „Wutbürger“-tum,
der Glaube an die Entdeckung einer un- oder antidemokratischen Verschwörung von
CDUSPDFDPetc und/oder eine besondere Wahrnehmung der Themen Migration,
Globalisierung und Political Correctness (als „Eckpfeiler“) auszumachen seien. Nun
haben Frustration und Wut Themen, auch wenn der
Frustrierte und Wütende erst danach
befragt werden muss. Thmen können sinnvoll nur konkret abgehandelt werden. Konkret
behandelbare Themen sind etwa Kontrolle und Bewältigung der Ursachen von Migration
oder Integration oder Rückführung von Immigranten, Vor- und Nachteile moderner
globaler Kommunikation einschließlich Verkehr und Wirtschaftsaustausch und deren
Gestaltung. Ansätze zur Bewältigung werden - nicht selten durch dieselben Grupen
und Parteien - glücklicherweise nicht nur "von rechts“ vorgetragen und wo doch, geht
"Rechtsruck" offenbaR auf ungedeckten Lösungsbedarf zurück.
(Konkrete Analysen und Vorschläge zum Thema Migration enthalten die Beiträge zur
Migration nach Europa - aktuell, zu
Grundfragen der Migration und zum Verhältnis von
Migration und Staatlichkeit.)
Dass CDUSPDFDPetc eher
nicht auf dem Weg zu Lösungen sind, liegt nahe. Auch liegt näher, dass diese Tatsache
auf demokratisches Versagen als dass sie auf „Verschwörung“ zurückgeht. Wenn Seemann meint, der
„alternativen Rechten“ bleibe nur die „Verweigerung jeder Moral und jeden Arguments“,
weil man gegen die globale Klasse nicht moralisch und argumentativ gewinnen kann, so
kann das nur heißen, dass die Ziele der globalen Klasse einer moralischen oder
rationellen Argumentation nicht zugänglich sein sollen. Dann wäre die „Verweigerung“
allerdings die logische Folgerung und die „Klasse“ politisch bedeutungslos. Im
übrigen ist die Verweigerung eines Zugeständnisses jeglicher Rationalität oder Moral
an die Ziele der AfD angesichts deren Manifestation beispielsweise in einem
ausführlichen Parteiprogramm nur durch Blindheit zu erklären. Sollte diese auf
„anti-rechte“ Affekte zurückgehen, so wäre sie zwar verständlich und vielleicht als
Affekt zu loben aber politisch kontraproduktiv, antidemokratisch und schädlich.
(Vgl. den Beitrag zur AfD in der Homepage pro-re-publica.eu).
Seemann bemerkt, „die Linke“ habe im Rechtsruck Wiedergänger ihrer selbst gefunden, die
Seemann „gespenstisch“ nennt, und findet es „erschreckend“ dass Varoufakis mit seinen
Ansichten den Kapitalismus retten will. Beides erklärt sich jedoch daraus, dass eine
ganze Reihe einzelner Erkenntnisse und Würdigungen der Linken und auch von
Varoufakis zutreffen und mit sozialer Marktwirtschaft vereinbar sind oder sogar zu
ihren Grundlagen gehören. Das ist alles andere als gespenstisch oder erschreckend.
Mit Recht bemerkt Seemann dass Wiedergewinnung von Kontrolle gegenwärtig
zu den als vorrangig wahrgenommenen politischen Themen gehört und auch dem „Brexit“
zugrunde liegt. Vor allem aber ist es das zentrale Thema für die Zukunft der
Europäischen Einigung. (Vgl.pro-re-publica.eu/Brexit
sowie pro-re-publica.eu/Krise.) Es wäre schlimm, wenn
das - wie von Seemann angedeutet - nur Schlachtruf „der Rechten“ wäre. Der Schlachtruf
wird aber in allen Parteien mehr und mehr aufgegriffen. Übrigens mag Brexit, wie Seemann
meint, von manchen als Drohung mit einer anderen Welt aufgefasst werden. Für andere
handelt sich um einen Schritt in die richtige Richtung zu einer Welt wiedergewonnener
Kontrolle und wahrer Einigkeit.
Wenn Seemann zugleich meint, die Arbeiter und Bürger
wollten ihre alten Eliten wiederhaben, die in einer alten Welt
gelebt haben, und Donald Trump sei eine egoistische und brutal kapitalistisch
sowie national bezogene aber kulturell anschlussfähige Identifikationsfigur, so spielen
danach entweder Arbeiter und Bürger unter den Trump-Wählern keine Rolle oder Seemann hat
eine seltene Auffassung von ihren alten Eliten. Übrigens hat es den Anschein, dass die
demokratische Welt eher daran interessiert ist, überhaupt eine Auswahl von Eliten und
Identifikationsfiguren zu finden, nachdem sie sich seit 100 Jahren so vehement und
auch mit einigem Erfolg gegen die Bildung von Eliten und differenzierten Figuren
engagiert hat und noch weiterhin engagiert.
Nach alledem kommt dem Beitrag Bedeutung als Anregung zu Analysen zu.
Deren gibt es bereits mehr als genug, die auch alle Andeutungen im Beitrags von Seemann
abdecken. Von Interesse ist, auf dieser Grundlage die richtigen Analysen zu ermitteln
und vor allem, konkrete Hindernisse für nachhaltigen Frieden auszumachen und Wege dazu
aufzuzeigen. Zu diesem Zweck müssen alle Gründe pro und contra aufgesucht und
gründlich und umfassend gewürdigt werden. Daran fehlt es allerdings an allen Enden und
auch im Beitrag von Seemann Substanzielle Würdigung und Planung ist auch nicht zu erwarten,
soweit mit ihm „Politische Verortung“ lediglichh als „Frage der Perspektive“ angesehen
wird.