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Bürgerwut und Wutbürger
von/by Dr. Christian Heinze (in German language only)
Eine subpage zur Seite: / A Subpage to the Page: pro-re-publica.eu 2016 09 26

In "Cicero-Online" erschien am 13.9.2016 folgende Glosse des Verfassers dieser homepage:

" Warum so zornig ?

Die Erfolge der AfD zeigen es: Aus Enttäuschung kann eine politische Macht erwachsen. Doch wie mit den verärgerten Bürgern nun umzugehen ist, dafür scheinen den etablierten Parteien die Rezepte zu fehlen.

Unter einem Wutbürger dürften sich die meisten jemanden vorstellen, der dauernd oder ungewöhnlich häufig wütend ist. Die Frage ist, ob oder wann ein Wutbürger gut oder schlimm ist. Man wird sagen müssen: Es kommt darauf an. Denn Wut verwirrt zwar den Verstand, die Rede und das Verhalten und behindert so vernünftiges Vorgehen. Aber menschliche Trägheit erfordert nicht selten Emotionen und sogar Wut, um etwas zu bewegen, Hindernisse zu überwinden. Der Kampf gegen das Böse oder um Fortschritt kann durch Wut wirksamer, manchmal überhaupt erst in die Wege geleitet werden. Und wie fad ist der Mensch ohne Temperament!

Noch größere Aussicht etwas zu bewegen, hat kollektive Wut. Paradebeispiel ist die Auslösung der Französischen Revolution durch den Sturm auf die Bastille vom 14. Juli 1789. Oft wird kollektive Wut angefacht durch Agitation organisierter politischer Kräfte. Man denke an die russischen Revolutionen von 1917 oder an die chinesische „Kulturrevolution“ von 1966. Diktatoren bedienen sich der Wut der Bevölkerung, um ihre Macht zu etablieren oder zu erhalten. Auch der Nationalsozialismus entfaltete sich ab 1930 in einer Art kollektiver Wut eines erheblichen Teils der Bevölkerung.

Das Gefühl ist wertfrei

Als Wutbürger werden Menschen bezeichnet, weil sie sich mehr oder weniger laut gegen oder für etwas aussprechen. So zum Beispiel die „Patrioten Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Weltweit gibt es Wut gegen „den Westen“ oder „die Amerikaner“, überall gibt es sie zwischen Staaten, Völkern und allen möglichen Gruppierungen. Wo sich dagegen Wut gegen Staat und Gesellschaft selbst richten darf, ist sie Anzeichen eines freiheitlich verfassten Gemeinwesens.

Wut hat in der Regel einen Anlass, geht auf die Ablehnung eines Zustandes oder auf unerfüllte Ansprüche zurück. Wut ohne Gegenstand außerhalb des Wütenden oder als Selbstzweck ist selten und meist lächerlich. Zustände und Verhaltensweisen lassen sich besser sachlich und vernünftig kritisieren und ändern. Wenn aber nichts davon gelingt oder sich schon der Zustand nicht begreifen lässt, macht sich Hilflosigkeit breit. Wut als Emotion ist wertfrei. Sie kann gute wie schlechte Gedanken, Äußerungen oder Verhaltensweisen emotional überhöhen. Gesellschaftlich relevant ist Anlass oder Ziel der Wut und das aus ihr erwachsende Verhalten.

Eine Welt ohne Wut ist nicht denkbar

Was nun anfangen mit der ganzen Wut? Gewiss trägt zwar Wut auf den ersten Blick nicht nachhaltig zur Befriedung oder Problemlösung bei. Aber ist nun Ruhe oder Unruhe die erste Bürgerpflicht? Ist nicht Unruhe, die zur Berichtigung eines Übels führt, ein Weg zum Frieden? Ist nicht Wut am Platze, wenn es partout nicht gelingen will, unausgewogene Freiheitsbeschränkunen zu koprrigieren ? Wut ist oft ein nützliches Signal. Sie erinnert daran, dass etwas bewältigt werden muss. So beruhigend und zweckmäßig emotionslose Auseinandersetzungen, so unästhetisch Wutausbrüche sein mögen, so sinnlos wäre es, Wut schlechthin abzulehnen.

Bewältigt sollte Wut aber wohl werden. Bewältigung ist denkbar durch Beseitigung ihrer Ursachen, durch Verwirklichung des Ziels, schließlich durch Besänftigung. Die meist mit Wut verbundenen Andeutungen lassen Anlässe oder Ziele oft nur umrisshaft erkennen, entweder weil sie der Wütende selbst nicht genau kennt oder formulieren kann, oder weil sie ihm nicht erklärt worden sind. Geboten ist daher vor allem eine gründliche Erforschung. Wer auf Wut stößt und nicht gleich nach der Polizei oder dem Psychiater ruft, fragt: Warum? Meist zeigt sich bald, dass Wut differenzierte Gegenstände und nicht selten einen berechtigten Kern hat. Das gilt besonders für kollektive Wut.

Offener Austausch von beiden Seiten

Ist der Grund geklärt, muss er bewertet werden. Verdient er Ablehnung, Bestätigung, Durchsetzung? Hier liegt die Schwierigkeit, die der Anti-Wutbürger geflissentlich umgehen will, indem er sich auf die Ruhe als erste Bürgerpflicht beruft. Denn selbst wenn mit Bezug auf den Gegenstand der Wut nichts zu veranlassen ist, haben doch die Wutbürger ernstzunehmende Probleme. Deshalb ist jedenfalls eines zu veranlassen: Um die notwendige Homogenität einer Gesellschaft zu erhalten, muss Wut durch Überzeugungsarbeit möglichst weitgehend aufgelöst werden. Die Interessen aller Beteiligten und der Gesellschaft müssen offengelegt und es muss gezeigt werden, welchen Beitrag, welche Toleranz ein jeder schuldet, mit welchen Kompromissen alle leben müssen. Und das ist nur möglich durch vernünftige Diskussion und Vorbildhaftigkeit.

Allerdings haben auch Wutwillige und ihre Mitläufer eine Aufgabe: sich über Wirkung und Rechtfertigung ihrer Wut Gedanken zu machen. Auch sie sind die Auseinandersetzung schuldig.
"
Die Glosse erhielt mehr als 70 Kommentare.
Eine Gewichtung ihrer Repräsentativität ist bei dieser Anzahl nicht möglich.
Ihr Inhalt lässt sich aber wie folgt zusammenfassen:
Zum Begriff "Wutbürger".

Mehrere Kommentatoren weisen darauf hin, dass der Begriff, so wie er im Jahre 2010 durch einen Spiegel- Artikel in die politische Diskussion eingeführt worden sei und vielfach verwendet werde, dazu bestimmt sei (als "Journalisten-Trick"), die Leute, auf die er sich bezieht, lächerlich zu machen oder als unverständig, gar dumm darzustellen, sie als grundlos emotional oder aggressiv zu diffamieren oder anzugreifen (zum Beispiel als "Pack").

Andere Kommentatoren machen dagegen geltend, dass solche Leute sich vielmehr als aktive Demokraten verhalten, indem sie - gegebenenfalls aus gutem oder wenigstens nachvollziehbarem Grund - gegen Zustände oder Politiken protestieren. Einschlägige Emotionalität sei zutreffend als "Zorn" zu bezeichnen, womit die Kommentatoren offenbar eine gemäßigte Form begründeten Widerspruchs meinen. Gegen solchen Zorn sei nichts einzuwenden, gegebenenfalls sei auch Wut am Platze.
Zum Gegenstand des Protests.

Als Gegenstand des Protests sehen Kommentare den Umstand an, dass die (politische) Kommunikation und Diskussion vielfach gekennzeichnet sei durch nichtssagende Gemeinplätze (stereotype Phrasen), Schönrednerei, Verharmosung, Verdeckung, Tabuisierung, Bagatellisierung, durch Irreführung bis hin zur Verleumdung, durch Überheblichkeit und Arroganz der politischen Klasse anstatt inhaltlich begründeter Auseinandersetzung, und dass politisches Handeln durch "faule Kompromisse", die Schaffung in ihrer Bedeutung undurchsichtiger aber irreversibler Tatsachen gekennzeichnet sei.

Als Gegenstand des Protests wird die "derzeitige Politik", die "imperialistische", militaristische oder "Kriegs"-Politik, "die Regierung" oder Frau Merkel genannt. Es werde das Recht insbesondere des Grundgesetz, speziell die Gewaltenteilung nicht eingehalten (gebrochen), als Beispiele werden Euro- und Bankenrettung genannt. Das System sei verkrustet, es herrsche Pöstchenschieberei, politische und wirtschaftliche Korruption der Mandatsträger in Land, Bund und EU. Es wird pauschal auf die Gegenstände Bezug genommen, die die AfD oder die Pegida kritisieren. Aber auch die AfD selbst wird von den einen als Protest-Gegenstand, von anderen als Prügelknabe einer Politik erwähnt, die ihre Programmpunkte (notgedrungen) übernehme.

Es fehle an direkter Demokratie, am Dialog zwischen Regierung und Volk, wo Entfremdung herrsche. Das Volk werde nicht ernst genommen, verachtet oder beschimpft oder es werde autoritär am Volkswillen vorbeiregiert. Die öffentlichrechtlichen Medien würden die "öffentliche Meinungsbildung unterbinden".Andererseis wird kritisiert, dass die Politiker nichts zu sagen hätten, dass Verbände und Organisationen unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem verteidigen, dass die Wahlbeteiligung gering ist. Das Volk habe keine Chancen gegen "Entscheidungen des Kapitals und der Bürokratie". Andererseits wird darauf hingewiesen, dass Proteste und Wut die regierenden Parteien zu Programmänderungen veranlasst hätten. Das zeige, dass Demokratie funktioniert.

Als Protest-Gegenstand wird "soziale Ungerechtigkeit" bei 12 Millionen Geringverdienern ausgemacht, sowie dass die Reichen immer reicher werden, dass die "Macht des Kapitals geschützt" werde, dass die Bildungslage (Mangel an politischer Bildung und an Urteilsfähigkeit) und die Gesundheits- und Altersversorgungslage unbefriedigend und die Staatsquote am Einkommen und Eigentum zu hoch sei und der Staat zu viel Geld schöpfe. Kinderarmut sei verbreitet, das Wohnen zu teuer, Leiharbeit zu verbreitet und Hartz IV zu beanstanden. Protestiert werde auch gegen den "Verschwender- und Umverteilungsstaat", die "Euro-Konkursverschleppung" und die Finanzkrise und EnergieWende, gegen die Positionierung der Banken "außerhalb der Marktwirtschaft" und gegen Investitionsrückstau. Es wird sowohl zu wenig Wirtschaftsfreiheit als auch Neoliberale Politik kritisiert. Wut richte sich auch gegen Umweltverschmutzung.

Als Protest-Gegenstand werden ferner Einwanderung und Überfremdung insbesondere ohne Volksbefragung, wird der Verlust der Kontrolle über die Grenzen, werden Sozialleistungen an Muslime, Einwanderer und Flüchtlinge und die Bevorzugung Südeuropas ausgemacht. Es wird gefordert: Unser Volk, unser Land müsse wieder "Grundlage werden". Protestiert wird aber auch gegen Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus (der von Thilo Sarrazin und der Aktion "Du bist Deutschland" gefüttert worden sei).

Anlass für Protest sei die Unterbewertung der deutschen Ethnie und Kultur, der Erbschuldvorwurf (gegen Deutschland). Protest richte sich gegen die Bildung von Parallelgesellschaften.

Eine Stimme protestiert: Es finden bei gravierenden europäischen Themen keine Absprachen mit den anderen europäischen Staaten statt.
Zur Bewertung des Protests.

Mit den Gründen für den von ihnen geteilten oder ausgemachten Protest setzen sich die Kommentatoren kaum auseinander, die Kommentare implizieren in der Regel Unterstützung. Allerdings werden Protestgegenstände offenbar oft als Ursachen für andere angesehen, wie etwa Politikmängel für Missstände aller Art.

Ein Kommentar nimmt Bezug auf eine Lehre des Professors Franz Hörmann (Wirtschaftsuniversität Wien), die Aufschluss geben soll über das "Betrugsmodell unseres Finanzsystems".

Ein Kommentator sieht in der Geldschöpfung, ein anderer im Investitionsrückstau die Ursache "der Krise".
Negative Vorschläge.

Ein Teil der Proteste beinhaltet Vorschläge, die sich darin erschöpfen, Einrichtungen oder Verhältnisse abzuschaffen, Ermächtigungen oder Politiken zu beenden. So etwa der Ruf: "Merkel muss weg" oder die Aufforderung zu "Widerstand".
Konstruktive Vorschläge.

Angesichts der Vagheit der Proteste und der nur sporadischen Auseinandersetzung mit ihrer Begründung und Bewertung finden sich nur vereinzelt konstruktive Vorschläge.

Ein Kommentator schlägt implicite vor, die Bemühungen um Einigung der EU-Staaten über konkrete politische Themen zu verstärken.

Ein Kommentator fordert die Einführung einer Zweiprozentklausel in das Wahlrecht, um kleinen Parteien Einfluss zu verschaffen und die unmittelbare Demokratie zu stärken. Auch wird vorgeschlagen, eine "vernünftige Partei aus schlauen Köpfen aufzubauen". Wenig klar ist die Forderung, "Lobbyismus transparent" zu machen.

Vorgebracht wurde der Vorschlag, die Medienanstalten unabhängig zu verfassen.

Vorgeschlagen aber auch abgelehnt wurde, die Sachbearbeiterstellung bei Jobzentren zeitlich zu befristen.



Fortschreibungen zum Thema "Wut". (Ohne Datum.)

Ein schönes Beispiel zum Thema "Wut" (außerhalb des Bereichs der Politik) bietet die Prügelszene (zum Nachteil Beckmesser) in Wagner's Meistersingern. Ein Bericht zu einer Aufführung von 2017 erwähnt, dass der Dirigent während dieser Szene des Musizieren dem Orchester mit überzeugendem Ergebnis (zu einer Art "Wut-Jamsession") freigegeben hat. - Wut kann auch lächerlich sein: zum Beipsiel bei lächerlichem oder absurdem Anlass (Rumpelstilzchen).

Als Anlass für Wut kommen leicht Unklarheiten und Unwahrheiten in Betracht, insofern berührt sich das Thema mit denen des "Populismus" und der "Fake News".


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