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Brexit
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pro-re-publica.eu
von Christian Heinze,
erstellt am und ergänzt seit 3.3.2017 bis 4.3.2020
Entwicklung der Brexit-Politik bis 2020
Ursachen und erste Aktionen.
Das
Ausscheiden Englands aus der EU am 31.1.2020
ist die Folge von
Mängeln der Assoziationskraft der EU
in ihrer Verfassungsentwicklung bis zu diesem Zeitpunkt.
Sie bestehen in der von einigen Mitgliedstaaten mitgetragenen
tatsächlichen Ausübung von Kompetenzen durch die EU, die über die
rechtsverbindlich vereinbarte Verwaltung eines Bundes von
Staaten hinausgehen.
Die Kompetenzüberschreitung hat unter
Reduktion der
Staatlichkeit
und damit der Demokratien der Mitgliedsländer
zu einer Korruption des marktwirtschaftlichen Systems durch
Überregulierung (Verletzung des Subsidiaritätsprinzips) und durch
Umverteilung mit Hilfe einer europaweiten Überschuldung über das
EU-Währungssystem, zu einer Durchlässigkeit nationaler Grenzen
für Migration ohne gleichzeitige Sicherung der Kontrolle über
die europäischen Außengrenzen geführt. Die Mängel haben in
England Kritik hervorgerufen. Sie wurde in einer Rede des
damaligen Premierministers
David Cameron vom 23.1.2013 in
Bloomberg wie folgt zusammengefasst:
"First, the problems in the Eurozone are driving fundamental change in
Europe. Second, there is a crisis of European competitiveness.... And
third, there is a gap between the EU and its citizens which has grown
dramatically in recent years. And which represents a lack of democratic
accountability and consent ..... Complex [EU] rules restricting our labour
markets .... [and] excessive regulation [are]... seen as something that
is done to people rather than acting on their behalf .... their taxes are
used to bail out governments on the other side of the continent. ... .
[When] the Single Market remains incomplete in services, energy and digital
.....it is only half the success it could be .... [The EU should] exempt
Europe’s smallest entrepreneurial companies from more EU Directives ....
creating a leaner, less bureaucratic Union.... [Can] we ... justify the
huge number of expensive peripheral European institutions ? ... a Commission
that gets ever larger? ... carry on with an organisation that has a multi-
billion pound budget but not enough focus on controlling spending and
shutting down programmes that haven’t worked? [The] European Court of
Justice ... has consistently supported greater centralisation ..... [Power]
must be able to flow back to Member States, not just away from them. This
was promised by European Leaders at Laeken a decade ago. ....[We] need .....
a bigger and more significant role for national parliaments. ... There is not
.... a single European demos. ... It is to the British Parliament that I must
account on the EU budget negotiations, ... [he British] resent the
interference in our national life by what they see as unnecessary rules and
regulation. .... [Many] ask 'why can’t we just have what we voted to join -
a common market'? .... Treaty after Treaty [are] changing the balance
between Member States and the EU. And note they were never given a say."
(https://www.gov.uk/government/speeches/eu-speech-at-bloomberg.)
Die Mitgliedstaaten der EU überließen die Reaktion
im wesentlichen der Brüsseler Bürokratie. Allein
in Dänemark und Italien ließen sich laut genug Stimmen vernehmen,
die Zaghaft auf die Notwendigkeit von Reformen der EU hinwiesen,
Die
EU lehnte die englischen Vorstellungen rundweg ab.
Das veranlasste England, zu einer aktiven Brexit-Politik überzugehen.
Die englische Regierung veranlasste die gesetzliche Einleitung
einer
Volksbefragung vom 23.6.2016: "Should the
United Kingdom remain a member of the European Union or leave the
European Union?" Bei einer Beteiligung von 72,219 % stimmten
51,89% für den Austritt.
Auseinandersetzungen in England bis zur Austrittserklärung.
Nach dem Referendum entspann sich ein an die geringe Mehrheit der
Befürworter des Austritts und an die Komplexität der mit einem
Austritt verbundenen Schwierigkeiten anknüpfender, teilweise mit
bizarren Mitteln geführter
heftiger Kampf
starker Kräfte innerhalb Englands und in der EU um den
Austritt und seine Bedingungen. Die sogenannten "remainers" versuchten
auch nach dem Referendum weiterhin mit obskurer aber wirksamer
Unterstützung aus der EU, den Austritt zu verhindern, und die
"brexiteers" suchten das Referendum umzusetzen, wobei
führende Akteure das Lager gelegentlich zumindest nach außen hin
wechselten. In die Auseinandersetzungen flossen besondere
schottische und irische Interessen ein und sie waren insgesamt
überlagert durch die grundlegenden Gegensätze zwischen konservativen
und sozialistischen Kräften, wobei den letzteren zeitweise Chancen
zugeschrieben wurden, die Oberhand zu gewinnen. Die Auseinandersetzungen
wurden angeheizt und die Schwierigkeiten überhöht durch eine verständnis- und
kompromisslose, weitgehend in arroganter Form vorgebrachten
Verurteilung und Bekämpfung der Austrittsabsicht durch die EU
und einige ihrer
Mitgliedsländer.
Der Kampf in England
war mit Kompetenz-Rivalitäten zwischen Regierung, Krone
und Parlament verbunden. Zunächst war streitig, ob die
englische Regierung für die Erklärung des Austritts der Zustimmung des
Parlaments bedurfte. Die Frage ist durch Entscheidung vom 24.1.2017
vom britischen Supreme Court bejaht worden. Am 1.2.2017 stimmte das
englische Unterhaus und im März 2017 das House of Lords der Austrittserklärung
zu. Die englische
Regierung erklärte die Austrittsabsicht
gegenüber der EU am 29.3.2017. Die damalige Premierministerin
Theresa May hatte in ihrer Rede vom 17. Januar
2017 (Queen's speech) einen großen Kreis englischer Interessen in allgemeiner Form als
Gegenstand englischer Austrittspolitik zusammengestellt.
(https://www.gov.uk/government/speeches/the-governments-negotiating-objectives-for-exiting-the-eu-pm-speech.)
Ringen in England und zwischen England und der EU nach der
Austrittsklärung.
Die Auseinandersetzngen zwischen England und der EU sowie innerhalb Englands waren
nach der Austrittserklärung durch die Vorschriften
des Artikel 50 des Vertrages über die Europäische Union vom 7.2.1992
(EUV) über das Austrittsverfahren bestimmt, welcher lautet:
"(2) Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem
Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der
Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem
Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und
schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen
Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird.
Das Abkommen wird nach Artikel 218 Absatz 3 des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union ausgehandelt.
Es wird vom Rat im Namen der Union geschlossen; der Rat
beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des
Europäischen Parlaments
(3)Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des
Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre
nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es
sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem
betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern."
Innerhalb der Frist des Art. 50 Abs. 2 EUV konnte die
Austrittserklärung zurückgenommen werden (Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs vom 10.12.2018).
Beachtung verdient, dass Art. 50 das Ergebnis der
Austrittserklärung in Abs. 3 darauf beschränkt, dass nach Ablauf
bestimmter Fristen auf den austretenden Staat "die Verträge ...
keine Anwendung mehr" finden. Damit ist der vertragsrechtliche
Begriff des Ausscheidens oder Austritts umschrieben,
Für die nach Absatz 2 durch die Austrittserklärung ausgelösten
Verhandlungen zwischen England und der EU über ein
Austrittsabkommen begann nach Absatz 3 zunächst eine
Frist bis 30.3.2018 zu laufen, während deren die EU-Verträge
fortgalten.
Der beiderseitigen bilateralen und globalen Interessenlage hätte
wohl am besten entsprochen, dass England und die EU die
Austrittsfrist nutzen, um, soweit noch nicht geschehen,
zusammenstellen,
welches konkrete nachvertragliche
Verhalten der
anderen Partei ihren Interessen entspräche und welche im
Interesse der anderen Partei liegendes Verhalten sie im Gegenzug
anbieten möchte. Dazu kam es jedoch bis heute nicht. Die wohl
einzig denkbare rationale Erklärung dafür dürfte in der
Wirksamkeit von Kräften in England und der EU zu suchen sein,
die auf eine Revision des Austritts oder auf für England
akzeptable Vereinbarungen hoffen.
Nach der Austrittserklärung eröffnete die EU die
Auseinandersetzung mit England in der offensichtlichen Absicht,
den
Austritt Englands zu verhindern, ohne an
eine Berücksichtigung
englischer Ansichten über die EU auch nur zu denken, mit der
Präsentation eines Pakets von damit unvereinbaren
Austrittsbedingungen, verbunden mit der Versicherung seiner
Unabänderlichkeit. Dass Vorgehen gründet sich auf die Richtlinien
("directives")des Europäischen Rates im Anhang zu seinem Beschluss
vom 22.5.2017 (XT 21016/17 ADD 1 REV 2), die unter anderem in ihrem
Abschnitt III 2 Andeutungen über angebliche englische finanzielle
Verpflichtungen aus dem Austritt enthalten. Nach begleitenden
Verlautbarungen aus EU-Kreisen soll es sich um eine Größenordnung
von 100 Mrd. Euro handeln, während rechtliche Begründungen für
konkrete Forderungen der EU erst noch gesucht wurden.
Durch von Theresa May herbeigeführte Unterhaus-Wahlen vom 8.6.2017
hatte die konservative Regierungspartei unerwartet ihre
Parlamentsmehrheit verloren und die Labour-Partei sah sich erheblich
gestärkt. Die Konservativen stellten aber nach englischem Recht
weiterhin den Premierminister. Die Regierungserklärung von Theresa May
in Form der "Queen's Speech" vom 21.6.2017 hat die Grundlagen für die
Austrittsverhandlungen vom 17.1.2017 nicht übernommen sondern die
Verhandlungsziele weitgehend offengelassen. Obwohl der
Verlust von Parlamentssitzen der Regierungspartei und die Vermehrung des
Einflusses der Labour-Partei nicht in erster Linie auf
Auseinandersetzungen über die
englische Austrittspolitik sondern auf davon im wesentlichen unabhängige
soziale Verteilungskämpfe zurückgeht, wurde die Austrittspolitik der
Regierung künftig erschwert durch Unzufriedenheit mit dem Theresa May
angelasteten Wahldebakel, durch Unbeständigkeit und Undurchsichtigkeit
ihrer Austrittspolitik (Theresa May hatte noch vor nicht langer Zeit zu
den Befürwortern eines Verbleibs in der EU gehört) und durch die
Ungewissheit der zu erwartenden Abstimmungsergebnisse im Parlament.
Es gab auch Bemühungen um ein neues Referendum zur Frage des Verbleibs
in der EU, die mit einer Veränderung der Wahrnehmung der Bedingungen
eines Austritts begründet wurden.
Die Verhandlungen zwischen England und der EU zogen sich ohne
nenneswerte Ergebnisse hin. Als sich die Frist nach Art. 50 Abs.
3 EUV ihrem Ende am 30.3.2018 näherte, führte die fortbestehende Hoffnung
der remainers und der EU auf Revision der
Austrittsentscheidung und der brexiteers auf günstigere oder akzeptable
Austrittsbedingungen zu einer vereinbarten Verlängerung der Frist bis
31.10.2019. Nach intensivierten Verhandlungen kam am
14.11.2018
eine Einigung der englischen Regierung mit der EU über den
Entwurf einer Austrittsvereinbarung zustande. Sie sah ein weitgehendes
Verbleiben Englands im gemeinsamen Markt vor, bis England nachgewiesen
haben würde, dass ein mit EU-Recht unvereinbarer Austausch zwischen
Irland und England im Fall eines umfassenden Austritts verhindert sein
würde (sog. "Irish backstop"). Der Entwurf fand jedoch nicht die
Zustimmung des englischen Parlament. Als sie ihre Bemühungen um eine
Austrittsvereinbarung gescheitert sah, trat Theresa May
am 24.5.2019 als Premierministerin zurück. Die Wahl eines neuen Führers
der konservative Partei gewann
Boris Johnson, der
am 24.7.2019 zum Premierminister ernannt wurde.
Johnson hatte seine Kandidatur unter anderem
mit dem Versprechern begründet, keiner weiteren Verlängerung der Frist nach
Art. 50 Abs. 3 EUV über den 31.10.2019 hinaus zuzustimmen, sondern ein Ende der
Anwendung des Mitgliedsstatus Englands ohne Austrittsvereinbarung einem
unakzeptablen "deal" vorzuziehen. Daraufhin verabschiedete das englische
Parlament am 19.9.2019 den European Union (Withdrawal) (No. 2) Act 2019 (den
sogenannten Benn's Act), wonach der Premierminister bei der EU rechtzeitig vor
dem 31.10. mit einem in diesem Act wörtlich vorgeschriebenen Brief um eine
Verlängerung der Frist nach Art. 50 Abs. 3 EUV bis 31.1.2020 für den Fall
ansuchen muss, dass bis 31.10.2019 keine Austrittsvereinbarung zustande kommt.
Johnson sah sich genötigt, die EU von dem Act zu unterrichten, bat sie aber
zugleich eine Fristverlängerung abzulehnen. Die EU fasste die Mitteilung
als Antrag auf Fristverlängerung auf und stimmte ihr zu. Seither gehen die
Beteiligten vom
Ende der Frist nach Art. 50 Abs. 3 EUV am 31.1.2020
und damit für den Fall, dass bis dahin kein Austrittsabkommen
zustande gekommen ist, vom Austritt Englands aus der EU an diesem Datum aus.
Um sich weiteren Störungen seiner Politik durch das
Parlament zu entziehen, erwirkte Johnson unter Bezugnahme auf Gewohnheitsrecht
aus Anlass seiner bevorstehenden "Queen's speech" eine königliche "Order of
Prorogation" vom 28.8.2019, die das Parlament vom 12.9. bis 14.10.2019
beurlaubte. Der Supreme Court hob diese Order durch Urteil vom 24.9.2019
wegen Unvereinbarkeit mit dem Prinzip der Gewaltenteilung auf.
Innerhalb offener Frist nach Art. 50 EUV trat das zwischen
England (Regierung Johnson) und der EU geschlossene
Abkommen über
den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und
Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft
vom 24.1.2020 (ABl. L 29 vom 31.1.2020, S. 7–187) nach
Zustimmung beider Häuser des englischen Parlaments (und königlicher
Unterschrift) und des Europäischen Rates
am 31.1.2020
in Kraft. Nach Auffassung der EU findet damit "gemäß Artikel 50 EUV" in
Verbindung mit Artikel 106a des Euratom-Vertrags und Art. 185 Buchst. a)
des Austrittsabkommens
das Recht der Union und der
Euratom in seiner Gesamtheit ab 31.1. (oder genauer: ab 1.2. ?) 2020 auf
England keine Anwendung mehr. Nach dieser Auffassung ist der
Austritt Englands aus der EU wirksam, und ein Wiedereintritt nach Art.
50 Abs. 5 EUV nur in einem neuen Beitrittsverfahren möglich.
Zugleich gehen die Beteiligten davon aus, dass das Austrittsabkommen
vom 24.1.2020 in Art. 127 Abs. 1 eine Neuinkraftsetzung oder
Fortgeltung des
Unionsrechts in England während einer in Art. 126 bemessenen
Übergangsfrist bis 31.12.2020 (beginnend mit dem
Austrittszeitpunkt) angeordnet hat, soweit nicht in diesem Abkommen etwas
anderes bestimmt ist. Die Frist kann
verlängert werden.
Sodann enthält das Austrittsabkommen ein sehr komplizierten und
detailliertes Regelwerk von 185 Artikeln mit vielen Unterabsätzen und
zahlreichen Protokollen und Anhängen. Es enthält in wenig übersichtlicher
Vermischung sowohl endgültige Regelungen der Verhältnisse zwischen
England und der EU als auch Regelungen, die während der Übergangsfrist
gelten sollen
(https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:12020W/TXT&rid=4).
Nicht immer ist auf den ersten Blick zu erkennen, zu welcher Gruppe
Regelungen gehören. Nach Art. 185 Abs. 4 und 5 des Austrittsabkommens
sollen jedenfalls Teil Zwei und Teil Drei mit Ausnahme der Artikel 19,
Artikel 34 Absatz 1, Artikel 44 und Artikel 96 Absatz 1 sowie der
Teil Sechs Titel I und die Artikel 169 bis 181 sowie das Protokoll zu
Irland/Nordirland mit Ausnahme bestimmter Bestimmungen des Protokolls,
die ab Inkrafttreten dieses Abkommens ab dem Ende des Übergangszeitraums
gelten.
Endgültig und sehr detailliert geregelt sind in Teil Zwei (Art. 9 bis
39) Ein- und Ausreise- sowie Aufenthaltsrechte der britischen
Staatsangehörigen und der Unionsbürger, besonders der Arbeitnehmer und
Unternehmer. Aufenthalte von mehr als 5 Jahren
berechtigen zu künftigem Daueraufenthalt, der nicht vor Ablauf weiterer
5 Jahre beschränkt werden darf. Eine endgültige Regelung hat auch das
Recht des Geistigen Eigentums in Teil Drei Titel IV
(Art. 54 bis 61) gefunden zu haben. Teil
Fünf enthält Finanzbestimmungen, die die finanziellen
Mitgliedschaftslasten Englands während der Übergangsfrist aufrechterhalten
und englische Zahlungspflichten mit
Bezug auf früher eingegangene Verpflichtungen der EU zumindest zu
präjudizieren scheinen.
Im übrigen überlässt das Abkommen die Regelung vor allem der
Wirtschaftsbeziehungen nach Ende der Übergangsfrist
weiteren
Verhandlungen. Nach dem Abkommen verbleibt es jedoch schon
jetzt im wesentlichen bei der Beendigung der britischen Teilhabe- und
Mitwirkungsrechte in der EU mit dem Austritt am 31.1.2020. Nach
wie vor bleibt offen, ob nach Ende der Frist hinsichtlich der
Wirtschaftsbeziehungen ein im wesentlichen ungeregelter Zustand
eintritt oder welche Rechtsverhältnisse dann gelten.
Begleitet wird das Austrittsabkommen von der in seiner Präambel in Bezug
genommenen "
Politische(n) Erklärung zur Festlegung des
Rahmens für die künftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union
und dem Vereinigten Königreich" vom
17.10.2019. Dabei
handelt es sich um eine im Amtsblatt der EU vom 12.11.2019 (2019/C 384
I/02) veröffentlichte überarbeitete Fassung einer mit Billigung der
"politischen Ebene" von den Verhandlungsführern getroffene Vereinbarung vom
19.2.2019, die ihrerseits auf eine ihnen am 22.11.2018 vom
Generalsekretariat des Rates der EU zugeleitete Erklärung
(https://data.consilium.europa.eu/doc/document/XT-21095-2018-INIT/de/pdf)
zurückzugehen scheint.
Damit und insoweit hat sich die Brexit-Politik der Konservativen in England
gegenüber derjenigen der remainers und der englischen Sozialisten durchgesetzt.
Die konservativen Kräfte hatten schon in den Parlamentswahlen vom 12.12.2019
die Oberhand gewonnen, und die Mehrheit der politischen Kräfte versammelte
sich nunmehr hinter Premierminister Johnson.
Kritik.
Die Brexit-Politik litt seit ihrem Beginn auf Seiten der EU und ihrer
Mitgliedstaaten an Blindheit für die eigene Fehlentwicklung, eine
Blindheit die unbemerkt zur Schicksalsfrage für die EU geworde ist. Auf
englischer Seite litt sie an einer unzulänglichen substanziellen
Vorbereitung. Und auf beiden Seiten litt sie
am Mangel an Bemühungen um das dringende gemeinsame Interesses an einer
nachhaltigen Vereinigung Europas und an der Behebung demokratischer Defizite.
Dieser Mangel tritt darin zutage, dass die sonst ausführliche Präambel zum
Austrittsabkommen vom 24.1.2020 das Interesse an einer Vereinigung Europas
unter Einschluss des Vereinigten Königreichs mit
keiner Silbe erwähnt. Die "Politische Erklärung" von 2019 trägt zwar diesem
Interesse inhaltlich Rechnung, sie wird aber von dem verfehlten Anspruch
der EU auf eine zentralstaatliche verfassung wie von einem roten Faden durchzogen.
Der EU und ihren Mitgliedsländern kam es nicht in den Sinn zu erwägen, dass
die etwa von Cameron formulierte englische Kritik geeignet war, die EU von
einem Weg abzubringen, der die Staatlichkeit und damit die Demokratie ihrer
Mitgliedsländer beschädigt, während alle Voraussetzungen für den Eintritt
der EU in die entstehende Lücke fehlen. Die EU nimmt nicht wahr, dass sie
die Grundidee der Union in einem Meer von Überregulierungen zu ertränken
droht. Wenn das Vorgehen der EU paradoxerweise auch ein großes Interesses
an der Mitgliedschaft Englands erkennen lässt, ist es mit einer nachhaltigen
Vereinigung unvereinbar, weil das Vorgehen die Voraussetzungen eines
Grundkonsenses verkennt und England zugleich wegen seines Bestehens auf
diesen Voraussetzungen zu diffamieren und unter Druck zu setzen sucht. In
Fortsetzung ihrer bisherigen Politik konfrontiert die EU weiterhin England
mit einem Paket für England
unakzeptabler Forderungen mit der gleichzeitigen Versicherung
seiner Unabänderlichkeit. Von England wäre andererseits zu
erwarten gewesen dass eine von Verantwortung für das nachhaltige Wohl
Europas und Englands getragene Politik im Anschluss an die von Cameron 2013
vorgetragene Kritik sich selbst und der Bevölkerung zunächst konkrete
Klarheit über die schwerwiegenden und komplexen innen- und außenpolitischen
Vorzüge und Probleme des Verbleibs und des Austritts
besonders auch für Schottland, Malta und Irland aber auch für Europa als
ganzes verschafft hätte. So wichtig und einfach sich das Interesse Englands
an Beendigung der überhandnehmenden Beeinträchtigung seiner Selbstbestimmung
durch die EU auch darstellte, konnte auch im Hinblick auf die Konsequenzen
der bisherigen Mitgliedschaft Englands erst auf der Grundlage gründlicher
und breiter Analysen einigermaen sicher realisierbare
konkrete Pläne und Reformentwürfe für die EU und für England
entwickelt werden. Sie wären zunächst innerhalb der EU mit Nachdruck zur
Geltung zu bringen gewesen. England hätte diesen Nachdruck ultimativ
auch mit Inaussichtstellung seines Austritts verstärken können. Der
Fragenkomplex war zwar in der Bloomberg-Rede eher thematisch angesprochen
worden, hat aber in der politischen Diskussion in England bis heute keine
große Rolle gespielt, und der Grundlagen- un Planungsmangel ist bis heute
(2020) nicht behoben. Wenn die englische Regierung und das englische
Parlament das Brexit-Referendum ohne eine solche Grundlage und ohne
breite und tiefe öffentliche Erörterung der Sachfragen herbeiführten,
haben sie nicht nur ihre Verantwortung für eine auf das Gemeinwohl
gerichtete rationale Politik verfehlt sondern auch versäumt, den
Voraussetzungen für wirkliche Demokratie Rechnung zu tragen, und das
Ergebnis genießt nur geringe demokratische Legitimation, wie sie auch
für die Rechtsakte der EU mit Recht gefordert wird. Der mit dem
Referendum unter den gegebenen Umständen verbundene Fehler war
zunächst wenig gefährlich, weil sein Ergebnis mit gutem Grund für
Regierung und Parlament nicht verbindlich ist. Daraus folgte deren Aufgabe,
Bedingungen, Folgen und Nützlichkeit von Austritt und Verbleib nach dem
Votum der Bevölkerung erst recht gründlich zu untersuchen, um eine
verantwortungsvolle Wahrnehmung der demokratischen Kompetenzen der
Regierung zu ermöglichen. Erst die Verfehlung dieser
Aufgabe (an der erforderlichen Grundlagen- und Planungsarbeit fehlt
es bis heute) belastet die englische Brexit-Politik. Sie ist Ursache
dafür, dass England seine innenpolitischen Kräfte während mindestens
vier Jahren weitgehend auf Streit um einen weitgehend unbestimmten
Gegenstand bisher ohne nachhaltiges handfestes Ergebnis verwendet hat.
Fortgang ab 2020.
Ab dem 1.2.2020 wird der Fortgang durch das
Austrittsabkommen vom
24.1.2020 und durch die "
Politische Erklärung"
vom 17.10.2019 bestimmt. Dem Austritt Englands aus der EU am 31.1.2020
lag keine umfassende Austrittsvereinbarung vor allem über die künftigen
wirtschaftlichen Beziehungen zwischen England und der EU zugrunde. Der
Sache nach ist der Austritt Englands aus dem Gemeinsamen Markt daher durch
das Abkommen vom 24.1.2020 mindestens bis 31.12.2020 aufgeschoben worden.
Offen ist nach wie vor, ob es zu einem umfassenden Austrittsabkommen
auch hinsichtlich der Wirtschaftsbeziehungen oder zu einem insoweit im
wesentlichen ungeregelten Austritt oder zu einer weiteren Verlängerung der
Übergangsregelung nach Ende 2020 kommt.
Die
EU setzt ihre bisherige Brexit-Politik fort,
indem sie England vor die Wahl stellt, ein neues von der EU geschnürtes
Regulierungspaket zu akzeptieren, als dessen Grundzüge die EU womöglich
einen Teil der für die Übergangszeit vereinbarten Regelungen des
Vertrages vom 24.1.2020 ansieht, oder das Verhältnis jenseits dieses
Vertrages unreguliert zu lassen. Die England eng an die EU bindenden
Regelungen vom 24.1.2020 lassen fragen, ob die EU noch immer annimmt,
ihren Autoritätsanspruch gegenüber England auch nach dem Austritt
weiter verfolgen, diesen vielleicht
sogar rückgängig machen zu können. England hat das neu/alte
EU-Paket entschieden abgelehnt. Sowohl England als au die EU haben
Vorbereitungen auf ein ungeregeltes Verhältnis zumindest angekündigt.
Die Option eines
ungeregelten Austritts bestand für
England zuletzt beim Auslaufen der Frist nach Art. 50 Abs. 3 EUV am
31.10.2019 und am 31.1.2020. Es war offenbar
die Furcht vor Konsequenzen der Regellosigkeit, die England jeweils dazu
veranlasste,´um Fristverlängerung zu bitten, Auch seine Zustimmung zum
Abkommen vom 24.1.2020 hatte offenbar damit zu tun, dass noch
immer nicht absehbar ist, wie England den Verlust seines europäischen
Wirtschaftsaustauschs jetzt oder nach ein oder zwei Jahren kompensieren
kann. Die EU-Politik zieht ohnehin eine Verlängerung des status quo einem
ungeregelten Austritt vor. Das Abkommen vom 24.1.2020 vereinfacht eine
weitere Verlängerung der laufenden Frist um weitere bis zu 2
Jahren, indem es sie durch Beschluss eines nach dem
Abkommen zu bildenden Gremiums der Partner zulässt, sodass sie jedenfalls
keiner förmlichen Zustimmung von Exekutiv- oder Rechtsetzungsorganen der
EU oder Englands bedarf. Selbst eine Ausweitung des Zweijahreszeitraums
ist durch Änderung des Abkommens vom 24.1.2020 möglich.
Für den Fall des (bereichsweise) ungeregelten Austritts stipuliert Art.
50 Abs. 3 EUV, dass "
die Verträge" auf den betroffenen
(ausscheidenden) Staat (vorbehaltlich abweichender Vereinbarung)
keine Anwendung mehr finden. Von "den Verträgen" ist jedoch das
sogenannte "sekundäre EU-Recht" zu unterscheiden, das auf Grund der
Verträge in Kraft gesetzt worden ist. Es bedarf weiterer Untersuchung, ob
und inwieweit dieses Recht durch Art. 50 erfasst wird. Soweit es zugleich
als nationales Recht in Kraft gesetzt wurde, fragt sich, ob seine Aufhebung
oder Änderung eines nationalen oder zumindest eines besonderen EU-
Rechtsakts im Rahmen einer weiteren Austrittsvereinbarung bedarf. Die
Definition des EU-Rechts in Art. 2 des Austrittsabkommens führt dazu nicht
weiter, weil sie Sekundärrecht ebenso wie Art.50 zumindest nicht
unmittelbar erfasst. Jedenfalls liegt nahe, dass die Aufhebung oder
Änderung als nationales Recht in England geltenden EU-Rechts eines
besonderen englischen Rechtsaktes bedarf, weil es nach dem Austritt keiner
Rechtsetzungshoheit der EU mehr unterliegt. Danach könnte sich aus der
tatsächlichen Fortgeltung übereinstimmenden EU- und englischen
Rechts Kooperationsmöglichkeiten ergeben, die keiner Grundlage in
einer Vereinbarung bedürfen.
Der EU-Kommissionspräsident äußerte bei einem Abendessen am 26.4.2017
mit der englischen Premierministerin seine Ansicht, dass bestimmte
bereits erprobte
Drittländer-Arrangements als
Beispiel für eine mögliche Vereinbarung zwischen der EU und England
in Betracht kommen. Der Gedanke wurde von der englischen
Verhandlungsseite aufgegriffen mit dem Vorschlag einer Vereinbarung
nach dem Vorbild des Vertragsverhältnisses zwischen der EU und
Kanada. Der Vorschlag wurde von Seiten der EU wegen der
unterschiedlichen Rahmenbedingungen abgelehnt. Die Bedeutung der
Rahmenbedingungen liegt nahe, doch fragt sich, ob sie vertraglicher
Kompensation zugänglich sind.
Der
Entwurf vom 14.11.2018 und die Politische
Erklärung von 2018/2019
dürften weiterhin Verhandlungsgegenstand sein. Sie tragen zwar dem
Interesse aller Mitgliedsländer und Englands am Fortbestand der
Beteiligung Englands am gemeinsamen Markt und an geregelter
Freizügigkeit weitgehend Rechnung.Sie könnten aber die englische
Verhandlungsposition präjudizieren und lassen
weitgehende Beschränkungen der englischen Handlungsfreiheit zu, die
das europäische Verhältnis zu England künftig belasten müssten.
Ein ungeregelter Drittlandstatus Englands wird für viele
EU-Mitgliedsländer nicht akzeptabel sein. Sie werden
ihre Interessen an
Wirtschaftsbeziehungen zu England in der EU zur Geltung bringen. Eine
Neuauflage der napoleonischen "Kontinentalsperre" wollen sie nicht
veranstalten. Eine dem gesamteuropäischen Interesse entsprechende Post-
Brexit-Politik und eine rationelle Pflege des Verhältnisses zum
Vereinigten Königreich dürften sie einer irrationalen Bestrafungs- oder
Vergeltungspolitik gegen England vorziehen. Dazu gehört die Bewahrung
der wertvollen Früchte der unendlichen Bemühungen des vergangenen
halben Jahrhunderts um die erfolgreiche Errichtung einer europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft, die den Wohlstand aller Beteiligten wie
geschehen erhöht hat.
Die Mitgliedsländer der EU werden mit Bezug auf
die Zeit ab Ende der Übergangsfrist jedenfalls zu klären haben,
welche Bestandteile der grundlegenden EU-Verträge durch den Austritt
Englands ihre Geltung oder Akzeptabilität für sie verlieren und welche
Änderungen der EU-Verfassung dadurch erforderlich
werden und einer Einigung zugänglich sind. Das betrifft vor allem die
für Rechtsakte vorgesehenen Stimmgewichte und die geltenden Anteile
der Mitgliedsländer an den finanziellen Lasten der EU, deren
Grundlage durch den Austritt Englands entfällt, so dass sie nicht
ohne Neuvereinbarung fortgelten können. Die diesbezügliche Warnung von
Hans-Werner Sinn in der FAZ vom 22.2.2018 verhallte ohne
Reaktion der in Deutschland regierenden
Parteien. Am 24.1.2019 erinnerte
Otmar Issing in der FAZ an die
Reduktion des Anteils von 38 % der Nordländer (Niederlande,
Deutschland, Österreich, Baltische Staaten, Dänemark, Schweden und das
Vereinigte Königreich) an der gesamten EU-Bevölkerung durch den Brexit
auf 30 % und an die damit verbundene Aufhebung der durch die
Maastricht-Formel für qualifizierte Mehrheitsbeschlüsse der EU (55 % der
zusammen mehr als 65% der EU-Bevölkerung umfassenden Mitgliedsländer)
sichergestellte Sperrminorität der Nordländer. Es bleibt abzuwarten, ob
eine so schwerwiegende Änderung der EU-Verfassung durch Stillschweigen
der Mitgliedsländer wirksam werden kann.
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