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Krise der Europäischen Union als Krise der Staatlichkeit.
(In German language only)
von/by Dr. Christian Heinze
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2016 11 13 - Neufassung 2017 06 22, überarbeitet 2017 09-10 und 2018 12 09

Die Krise der Europäischen Union ist eine Ausprägung einer allgemeinen Krise der Gesellschaft und der Staatlichkeit. Den menschlichen Gesellschaften gelingt es nicht, aggressive Anwendung von und Bedrohung mit Gewalt und das Problem angemessener Produktion und Verteilung von Gütern und Leistungen ausrreichend zu bewältigen. Zur Bewältigung bedarf es intakter Gesellschaften und intakter Staaten. In weiten Bereichen der Welt fehlt es an beidem. Die Menschen vernachlässigen bereichsweise Einsatz und Verantwortlichkeit für die staatliche Gemeinschaft und ein inhaltsvolles Gemeinschaftsleben überhaupt. Die Notwendigkeit dieser Einsatzbereitschaft ist großen Teilen der Bevölkerungen nicht ausreichend bewusst, zum Teil infolge Gewöhnung an langdauernden Frieden und Wohlstand ihrer näheren Umgebung und deren Wahrnehmung als Selbstläufer, zum Teil weil sie die Unterhaltung von Gemeinwesen und insbesondere Staaten unter den Bedingungen moderner Industriegesellschaften noch nicht erlernt oder wieder vergessen haben.

Die aktuelle Krise Europas ist Teil dieser Krise der menschlichen Gesellschaften und der Staatlichkeit. Ihre historische Besonderheit besteht darin, dass Europa zwar im Lauf seiner langen und turbulenten Geschichte große theoretische und praktische Fortschritte in der Bewältigung aggressiver Gewalt und der Probleme der Produktion und Verteilung von Gütern und Leistungen und des Zusammenlebens überhaupt gemacht, jedoch in jüngerer Zeit dabei ähnlich große Fehlentwicklungen und Rückschläge erlitten hat.

Die Besonderheit der Krise Europas besteht in einem Zerfall der Staatlichkeit einiger europäischer Länder, der Hand in Hand geht mit einem Mangel der Bereitschaft ihrer Völker zu aktivem Einsatz für ihre eigene Staatlichkeit. Der Niedergang der Staatlichkeit in Europa tritt auch zutage in Autonomie- oder Separationsbewegungen, wie sie in jüngster Zeit in Norditalien und Schottland zutage getreten sind (während die Souveränitätsfrage in Belgien von jeher offen ist und die Zugehörigkeitskonflikte im Osten Europas, insbesondere auf der Krim und in der Ostukraine, sowie im Kosovo eher als Teil der noch nicht beendeten staatlichen Neuordnung des Gebiets und Einflussbereichs der ehemaligen Sowjetunion einzordnen sein dürften). Zu einem weiteren Beispiel für drohenden Verlust von Staatlichkeit ist Spanien durch die separatistische Bewegung von Katalanen und durch die Schwierigkeit Spaniens geworden, diese Bewegung zu bewältigen (siehe dazu den Beitrag dieser Homepage "Der Katalonienkonflikt und der allgemeine Bedarf an Staatlichkeit"). Die Krisenhaftigkeit dieser Entwicklungen besteht darin, dass die nach Autonomie oder Separation oder Staatlichkeit strebenden Bevölkerungen wenig oder keine Aussicht erkennen lassen, selbst - sei es in Teilen des beanspruchten Gebiets - die Merkmale dauerhafter stabiler Staatlichkeit zu erfüllen, so dass Bürgerkrieg oder Anarchie droht.

Neben dem Niedergang der Staatlichkeit leidet Europa am Mangel eines ausreichend intensiven Vereinigungswillens der europäischen Bevölkerungen. Die Krise Europas wird durch den untauglichen Versuch führender Organe und politischer Kräfte der Europäischen Union mit Unterstützung maßgeblicher Mitgliedsländer vertieft, diesen Mangel zu kompensieren, indem sie sich wie Organe und Träger eines Bundesstaates gerieren. Der Versuch ist untauglich, weil die Voraussetzungen für einen Bundesstaat Europas bei weitem nicht gegeben sind. Die Regierungen der Mitgliedstaaten unterstützen den Versuch, indem sie ihre Organisations-, Ordnungs- und Handlungsaufgaben im Übermaß an die EU, die UN oder "das Völkerrecht" abtreten und, soweit sie dort tatsächlich nicht wahrgenommen werden, im Ergebnis ersatzlos aufgeben oder gegen ungeregelte, illegitime Möglichkeiten zu Einzel- und insbesondere Tauschgeschäften eintauschen. Das entspricht einem Interesse der Regierungen an der Vermeidung eigener Verantwortlichkeit und des "demokratischen Risikos" des Verlusts von Gefolgschaft wegen der Ausrichtung oder befürchteter Folgen bestimmter Politiken. Die Regierungen beeinträchtigen dadurch entgegen dem erweckten Anschein von Europatreue die dauerhafte Konsolidierung der EU, die über keine andere Grundlage verfügt als die Staatsmacht und Legitimität ihrer Mitgliedsländer, und lassen gravierende politische Fehlentwicklungen zu. Hauptbeispiele für diese Beeinträchtigung und Fehlentwicklungen sind die Überschuldungspolitik der EZB in Verbindung mit einer unzweckmäßigen und verlustreichen Rettungspolitik sowie die EU-Politik unbeschränkter Freizügigkeit, die beide nur durch einen durch die geltenden Verträge nicht gedeckten oder jedenfalls mit den unverzichtbaren Anforderungen an Staatlichkeit unvereinbaren Kompetenzverzicht der Mitgliedstaaten ermöglicht werden. Die jüngste Folge dieser Fehleistungen ist die Erklärung des Austritts Englands aus der Union vom März 2017. Sie markiert einen eklatanten Rückschritt des europäischen Vereinigungsprozesses, und der demütigende Umgang der EU mit England offenbart mangelnde Einsicht der EU in das Erfordernis von Reformen, die mit einer Berücksichtigung der dem Brexit zugrunde liegenden englischen Kritik hätten beginnen können. Die breite Phalanx der Protagonisten der Anmaßung europäischer Bundesstaatlichkeit, gefährdet bei aller Europabegeisterung durch ihre folgenreiche Fehleinschätzung politischer Zusammenhänge das Projekt einer schrittweisen Vereinigung Europas.

Die Mangelhaftigkeit des Engagemens der Bevölkerungen in politischen Angelegenheiten und die Vernachlässigung der für die Zukunft Europas wichtigsten Themen im öffentlichen politischen Diskurs der Mitgliedsländer beruht zum guten Teil auf verbreiteter Politikverdrossenheit. Diese geht ihrerseits auf Unzulänglichkeit und Intransparenz staatlicher Entfaltung, auf Bildungsmängel sowie auf eine Diffamierung der Staatsidee und von Führungsstrukturen überhaupt. Diese hat eine Ursache im historischen Missbrauch des Gemeinschaftssinns sowie der Bereitschaft zu Führung und Gefolgschaft zum Zweck von Unterdrückung und Ausbeutung und der Realisierung schädlicher bis verbrecherischer Ideologien und Aggressionen bis hin zu Unterwerfungs- und Vernichtungskriegen. Wie die Gesellschaft der Betroffenen dem Missbrauch in der Vergangenheit nicht wirksam entgegengetreten ist, weil sie sich täuschen ließ oder keine Chance sah, sich durchzusetzen, mangelt es ihr auch an der für den gegenwärtigen Erhalt der existenznotwendigen Staatlichkeit erforderlichen Einsicht und Einsatzbereitschaft.

Auf absehbare Zeit kann es keine wirksame EU geben, die nicht von übereinstimmenden konkreten Entscheidungen starker Mitglieds- Nationalstaaten getragen ist, die ihrerseits in der Lage und bereit sind, solche Entscheidungen auf Grund breiter Zustimmung ihrer Bevölkerung inhaltlich übereinstimmend zu treffen und umzusetzen. Das setzt voraus, dass Regulierungen und Politiken der EU bereits in der Konzeptionsphase in der Kommission und in den die Richtung der Politik bestimmenden und gesetzgebeden Räten der EU und in den stets zu beteiligenden parlamentarischen Einrichtungren der Mitgliedsländer dieselbe Publizität erhalten wie sie iener demokratischen Innenpolitik genührt.

Unglücklicherweise werden politische Kräfte, die das erkannt haben und Wiederherstellung von Staat und Gesellschaft anstreben, im usurpierten Namen von "political correctness" als "nationalistisch" oder europafeindlich missverstanden und diffamiert, um den verhängnisvollen status quo zu konservieren.

Staatengemeinschaft ist eine Existenzbedingung für Europa. Europa hat die seit Napoleons Zeiten überfällige Sicherung dieser Bedingung durch Schaffung eines europäischen Staatenbundes in Angriff genommen. Ähnlich wie die Krise der Vereinten Nationen besteht jedoch eine Krise Europas in einer Vernachlässigung der Staatlichkeit als Friedensvoraussetzung. Sie geht zurück auf die Illusion, die europäischen (und überhaupt alle) Staaten könnten, sollten oder müssten Staatsgewalt überhaupt zugunsten einer Art elitären Selbstregulierung abbauen oder ohne Rücksicht auf ihren unverzichtbaren Kernbestand und unter Überschreitung der Grenzen eines Staatenbundes auf eine Organisation übertragen, die selbst ein Staat weder ist noch werden kann. Einige Vereinbarungen über Kompetenzen von EU-Organen sind dabei so vage gefasst, dass sie Anordnungen gestatten, die Herrschaft an die Stelle von Gemeinschaftlichkeit setzen, wenn sie nicht eng ausgelegt werden. Und EU-Organe vernachlässigen in Ausübung solcher Kompetenzen zu oft die Vorazssettzung der Gemeinschaftlichkeit, so dass sie nach der Beschlussfassung und Anordnung erst noch in den Mitgliedsländern um freundliche Befolgung oder Beachtung vorstellig werden müssen. Eine auch in den Mitgliedstaaten (wenn nicht weltweit) zu beobachtende Tendenz zu mehrdeutigen Regularien und Vereinbarungen und zur Aufweichung von Verbindlichkeiten in Staat und Gesellschaft leistet Beihilfe. Mit der Usurpation von Kompetenzen verhindert die EU die Definition und Promotion wirklich gemeinsamer Interessen und Überzeugungen der Mitgliedsländer und bewirkt zugleich eine Demontage der Mitgliedsstaaten. Am weitesten gehen dabei Ihre Forderungen nach zwischenstaatlichen und staatsinternen Transferleistungen oder nach Maßnahmen gleicher Wirkung oder nach unzulänglich kontrollierter Migration. Sie rühren an Voraussetzungen staatlicher Existenz. Mit der Staatlichkeit ihrer Mitgliedsländer beschädigt die EU zugleich die Fundamente ihres eigenen Bestandes. Sie verschleiert diese Wirkung, indem sie an die Stelle abgebauter Staatlichkeit einen Anschein eigener Souveränität der EU setzt, die es nicht geben kann, schon weil die Bildung einer stabilen geschweige denn legitimen obersten europäischen Staatsgewalt auf absehbare Zeit ausgeschlossen ist. Die Usurpation von Souveränitätsansprüchen und ihre Verschleierung durch die EU werden aber erst ermöglicht durch eine selbstzerstörerische Kooperation oder Duldung der Regierungen ihrer Mitgliedstaaten. Mit der Duldung entledigen sich Regierungen der Notwendigkeit, politische Kräfte für nationale Entscheidungen zu mobilisieren oder einzusetzen, oder verfolgen Ziele, die sie im Rahmen ihrer eigenstaatlichen unzulänglichen Demokraatie nicht durchsetzen können.

Die überfällige Vereinigung Europas begann in der Mitte des 20. Jahrhunderts mit der visionären, von weitblickend-einsichtigen und mutigen Staatsmännern auf Grund weitgehenden bewussten Konsenses der Bevölkerungen durchgestzten schrittweisen Gründung der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Schaffung eines gemeinsamen Marktes. Sie war auf einen Ausgleich der nationalen Wirtschaftsinteressen und rivalisierenden Ideologien durch Einführung einer gemeinsamen sozialen Marktwirtschaft gerichtet. Das Produktions- und Verteilungskonzept einer Sozialen Marktwirtschaft hatte sich durch das misslungene sowjetische sogenannte marxistisch-leninistische Experiment und den gelungenen europäischen und insbesondere deutschen Wiederaufbau nach dem zweiten Weltkrieg historisch als überlegen erwiesen. Der Ausgleich war und ist zugleich mit Wohlstands-Maximierung möglich, wenn obrigkeitliche Interventionen und insbesondere systemergänzende Umverteilungen die Fähigkeit der Marktwirtschaft zur Gewährleistung der erforderlichen Produktion nicht beschädigen sondern sich auf den Ausgleich von Verteilungsmängeln beschränken, wie sie bei Anlegung allgemein akzeptierter gesellschaftlicher Maßstäbe festzustellen sind.

Im Zuge ihres illusorischen Strebens nach einer gesamteuropäischen Staatlichkeit und unter dem Druck der im herrschenden Kampf um Marktwirtschaft oder Sozialismus und um Ausgleich des Fehlgebrauchs und Missbrauchs beider Grundordnungen engagierten Interessen verfolgt die Politik der EU mehr und mehr einen Kurs in Richtung auf obrigkeitliche Steuerung. Diese von einer wirklichen europäischen Einigung abgehobene Politik entbehrt eigener, authentischer Legitimation und entfernt sich von einer Grundlage in der ihrerseits nicht einmal mangelfreien demokratischen Legitimation der Mitgliedstaaten. Die interventionistische Wendung der EU-Politik steht in Wechselwirkung mit parallelen Tendenzen in den Mitgliedstaaten. Im Zuge einer allgemeinen Aufweichung der Verbindlichkeit von Verträgen und Gesetzen sowie von Verantwortlichkeiten und Haftung führt die Entwicklung der EU und ihrer Mitgliedstaaten trotz bisher unübertroffenen allgemeinen Wohlstandes auch zu einer Belebung des grundlegenden ideologischen Konflikts und zu leichtfertigen Beschädigungen der normativen und institutionellen sowie sachlich-realen Grundlagen sozialer Marktwirtschaft.

In Europa fehlt es nicht nur an Integrationsbemühungen, sondern schon am Bewusstsein des Integrationsbedarfs der durch ein Missverständnis der Meriten kultureller Vielfalt verdeckt wird. Das zeigt sich am Umgang mit Kritik und Protest, die zu Unrecht weniger als Indiz für Integrationsbedarf denn als Herausforderung zu Widerstand oder Durchsetzung oer Dominanz aufgefasst werden. Erscheinungen wie die „PEGIDA-Bewegung“ oder die „Alternative für Deutschland“ sowie ähnliche Erscheinungen in anderen Teilen Europas sollten zur Festigung des Zusammenhalts Anlass geben, die wirklichen Beweggründe zu erforschen und entweder Protestierende davon zu überzeugen, dass ihren Interessen insgesamt nicht besser gedient werden kann, oder Abhilfe zu schaffen, oder auch klarzustellen, welche Auffassungen oder Bestrebungen für diesen Staat unakzeptabel sind. Gegenüber Kritik oder Protest ist Zuwendung und nicht Missachtung oder gar Gewalt am Platze. Ähnlich verhält es sich auf der Ebene der europäischen Staatengemeinschaft. Anstatt Dissens unbesehen zu diffamieren, ist gründliche Diskussion geboten, welche Gründe und Kausalprognosen maßgeblich sind und ob und welcher einvernehmliche Ausgleich sinnvoll möglich ist. Die Aussichten auf die erforderliche europäische Integration schwinden, wenn Ablehnung einer als unerträglich empfundenen EU-Politik eher zu massiv unfreundlichen Emotionsausbrüchen oder zur Beschwörung von Feindbildern als zur Suche nach Fehlern und Berichtigungsbedarf bei den Emotionsträgern selbst führen. Das ist der Fall, wenn „Populismus“ als Vielzweck-Schimpfwort im Umlauf gesetzt wird, das bei näherem Hinsehen vor allem die Inhaltsleere der Position seines Benutzers verdeutlicht. Das zeigt sich auch, wenn manche extreme irrationale, unpolitische und selbstmörderische Reaktion auf die Meinung anderer an das Sprichwort erinnert: „und willst Du nicht mein Bruder sein so schlag ich Dir den Schädel ein“. Ein Mangel an Wahrnehmung von Grundlagen der Staatlichkeit kommt darin zum Ausdruck, dass eine deutsche Regierung die eigene Rechtsordnung bricht und die eigene Staatlichkeit untergräbt oder in den Wind schlägt, indem sie ohne ausreichende Integrationsvorkehrungen undifferenzierte und unkontrollierte Massenimmigration europafremder Völkerschaften zulässt und dazu noch mit Unterstützung von EU-Organen eine auf Grund anderer Prämissen getroffene Freizügigkeitsvereinbarung zur Unterstützung ihrer Forderung nach ähnlichem Verhalten anderer Mitgliedstaaten missbraucht. Eine eindrucksvollere Offenbarung des Grades unzureichender Bemühung um Integration lässt sich nur schwer vorstellen.

Die Zusammensetzung eines Bündels erforderlicher mindest-grundlegender Integrations- oder Homoginitätsfaktoren und die erforderliche Intensität ihrer Wirkung variiert je nach der Verfassung eines Staates und seiner Gesellschaft, auch durch die sich von Zeit zu Zeit ändernden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sicherheitsrelevanten Lebensbedingungen. Bei der zur Zeit gegebenen Integrationslage Deutschlands kann aber jedenfalls an einer (zusätzlichen) Gefährdung seiner Staatlichkeit durch Zulassung der Einreise von Flüchtlingen der verschiedensten Herkunft, Bildung und Gewohnheiten in der Größenordnung von mehreren hunderttausend Personen jährlich kein Zweifel bestehen, wenn die konkret- individuell Versorgung, Erwerbsmöglichkeit und die Akzeptanz zumindest der großen Mehrheit der Flüchtlinge nicht gewährleistet ist. Das gilt auch für andere Länder, deren Integrationspotenzial erschöpft ist, sei es weil es tatsächlich noch hinter dem deutschen zurückbleibt. Versuche, sie zur Selbstbeschädigung zu zwingen, müssten das Projekt einer europäische Staatengemeinschaft selbst dann untergraben, wenn sich jene Länder zu dieser Selbstbeschädigung vertraglich verpflichtet haben sollten.

Die Europäische Gemeinschaft ist Schauplatz anfangs erfolgreicher Problembewältigung. Ihr Niedergang sollte Anlass geben zur Aufsuchung, Erkenntnis und Berichtigung von Fehlentwicklungen anstatt zu Festhalten an einer Hybris kollektiver Selbstüberschätzung an Hand eines Verlusts politischen Grundlagenbewußtseins. Das betrifft ebensosehr die Organisation der EU als auch die Mitgliedstaaten, ohne deren aktiven Beiträge, Einverständnis, Gefolgschaft oder wenigstens Duldung Fehlentwicklungen nicht möglich gewesen wären. Geht man mit den meisten Europäern und europäischen und übrigens auch wohlwollenden außereuropäischen Mächten von der Existenznotwendigkeit einer Staatengemeinschaft für Europa aus, so bedarf es einer Rückkehr Europas zu einer Organisation von Mitgliedstaaten im Vollbesitz stabiler Staatlichkeit, die sie in eigener Verantwortung erhalten und durch ihre Rechtsordnung und Politik gemeinschaftlich aber selbstverantwortlich ausüben. Das bedingt ein Bewusstsein von der Unentbehrlichkeit einer obersten territorialen Ordnungsgewalt, getragen von einer über die Grundlagen einigen Bevölkerung, als Voraussetzung inneren und äußeren Friedens. Die Staaten müssen lieber wenige aber bestimmte, klare Lösungen der wichtigsten anstehenden Konflike und Probleme zuverlässig gemeinschaftlich durchsetzen als sich in 100.000 EU-Dokumenten über die verschiedensten Einzelheiten selbst zu ertränken.

Die Krise der EU wird vertieft durch die Verfehlung ihrer Ziele dauerhafter Gewährleistung von Sicherheit und Wohlstand in wichtigen Bereichen ihrer Entfaltung. Mit der Aufdeckung dieser zur Beeinträchtigung der Legitimität der Entfaltung der Union beitragenden Verfehlungen wird zugleich der Bedarf an inhaltlichen Richtlinien für eine dringend erfortderliche Reform oder Neugründung der Union erkennbar. Zu den wichtigsten Themen gehört übrigens auch die bisher völlig unzulängliche Verteidigungsgemeinschaft.

Eine relevante Verfehlung stellt die unter Verletzung des Subisdiaritätsgedankens entstandene Überregulierung des acquis communautaire dar. Die ihn ausmachenden mehr als 100.000 Dokumente müssen massiv reduziert und der wesentlicher Bedeutungsinhalt des acquis muss, um irreführenden Populismus auszutrocknen, für Jedermann verständlich und dennoch gründlich in Kürze dargestellt und zu Jedermanns Kenntnis gebracht werden.

Die EU hat es bisher versäumt, die Spaltung der Bevölkerungen und Regierungen Europas in ihrer Haltung zu der seit dem 19. Jahrhundert von Europa aus politisch zentral thematisieren Frage zu klären, ob Produktion und Verteilung von Gütern und Leistungen grundsätzlich durch Angebot und Nachfrage oder durch staatliche Lenkung gesteuert werden sollte oder bis zu welchem Grade Lenkung und Umverteilung mit Marktwirtsschaft vereinbar ist. Dass sich eine Klärung bisher trotz verbreiteter Lippenbekenntnisse zur Marktwirtschaft nicht abzeichnet, geht zum guten Teil auf ebenso verbreitete Mängel des Verständnisses einer soziologisch-psychologischen natürlichen Gesetzmäßigkeit wirtschaftlicher Abläufe und zum andern auf irrige Vorstellungen mit Bezug auf die Funktion der für beide Alternativen erforderlichen staatlichen Infrastruktur zurück.

Die mehr oder weniger ausgeprägte Unfähigkeit der Mitgliedstaaten zu einer grundsätzlichen Bewältigung des durch eine Vielfalt von Strukturen und Verfahren der Verteilungspolitik teilweise verdeckten Gegensatzes von Staats- und Marktwirtschaft versucht eine nicht nur unabhängige sondern auch von Verantwortung freigestellte Politik europäischer Institutionen unter anderem durch eine allgemeine massive Überschuldung zu kompensieren, die nicht nur die marktwirtschaftliche Ordnung sondern die wirtschaftlichen Grundlagen der Staatsgewalten untergräbt und erschüttert. Da die Überschuldung nicht ohne Verletzung von Grundlagen der Staatenvereinigung und nationaler Verfassungen möglich war, die von den höchsten Gerichten der Gemeinschaft und beispielsweisse vom Bundesverfassungsgericht zumindest ein Stück weit geduldet werden, erschüttert sie auch das Vertrauen in die Ordnungskraft internationaler Verträge und europäischer wie nationaler Rechtsordnungen.

Ein eklatantes Versagen der EU markiert der Schengen-Prozeß zur Verwirklichung von Freizügigkeit. Die Aufgabe der für staatliche Existenz unentbehrlichen Kontrolle des Bevölkerungsbestandes ohne glechzeitige wirksame Etablierung von Impermeabilität eines staatenübergreifenden Freizügigkeitsgebiets in Verbindung mit einem gemeinsamen für dieses Gebiet verbindlichen und angesichts eines massiven Migrationsdrucks praktikablen Grenzüberschreitungs- und Aufenthaltsregimes führte zu einem Einwanderungsproblem der EU, das andere vordringliche Probleme der Union in den Schatten stellt.

Das auf Austritt aus der EU gerichtete britische Volksbegehren vom 23.6.2016 sollte Anlass sein, die Fehlentwicklung zu zu erkennen und zu korrigieren. Es sollte daran erinnern, dass die Erfüllung der migrationspolitischen Forderungen Englands, deren Ablehnung den Brexit ausgelöst hat (und denen die zwischenzeitliche Entwicklung des Schengenprozesses - auch mit Hilf einer vom Bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer ausgehenden Initiative - ein wenn auch unzulängliches Stück entgegengekommen ist), mit den Interessen Europäischer Vereinigung weit eher vereinbar gewesen wären als es der Austritt Englands ist. Dass der Kampf um die englische Abstimmung von 2016 überwiegend mit allgemeinen und zweifelhaften Vermutungen wenn nicht gar Täuschungen über wirtschaftliche Folgen des Verbleibs und Austritts geführt worden ist und auch zur Zeit noch geführt wird, sollte nicht vergessen lassen, dass das Begehren nicht durch Vorteilsprobleme sondern durch die Ablehnung einer Diskussion der vorherrsschenden Auffassung über die Tragweite des EU-Freizügigkeitsprinzips ausgelöst worden ist. Trotz Fokussierung der innerenglischen Brexitdebatte auf wirtschaftliche Vorteile kann der Ausgang des Referendums von 2016 auch als Ausdruck eines Bewusstseins oder Unterbewusstseins der Fehlentwicklung der EU und der Bedingungen englischer Staatlichkeit aufgefasst werden, deren Aufgabe nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden darf und auch der EU ihre Grundlage entziehen würde.

Jedenfalls kann und sollte der "Brexit" ganz Europa daran erinnern, dass seine Einigung unter anderem von Einsicht in die Mindestbedingungen der Staatlichkeit der Mitgliedsländer abhängt. Es sollte alle Mitgliedsländer zur Korrektur der Fehlentwicklungen aufrufen, die dem "Brexit" darüber hinaus zugrunde liegen und sie daran erinnern, sich rechtzeitig genügend intensiv zu bemühen, um Fehlentwicklungen der EU von innen her zu verhindern. Auch England kann der Vorwurf nicht erspart werden, solche Bemühungen versäumt und Fehlentwicklungen selbst fallweise als opportun geduldet zu haben. Die erste Reaktion auf das englische Votum jedenfalls in Deutschland deutet allerdings eher darauf hin, dass der Weckruf ungehört verhallen kann. Denn sie gibt der Überlegung keinen Raum, welche Fehler oder vermeidbare Politiken der übrigen europäischen Staaten zum englischen Votum vom 23.6.2016 geführt haben. Schlimmer noch: Die verbreitete Entrüstung über das Votum der Engländer dämpft die Hoffnung auf europäische Vereinigung, weil sie einen Mangel der EU und der Mitgliedsregierungen und -Bevölkerungen an politischer Urteilsfähigkeit, an Kompromisswilligkeit und an demokratischer Gesinnung offenbart. Daran ändert es nichts, das das Beispiel des Brexit zugleich die Untauglichkeit direkter Demokratieverfahren im parlamentarisch-repräsentativen System eines modernen Industriestaates belegen hilft.

Statt einer Besinnung auf erforderliche Reformen hat der Brexit bedenkliche Reaktionen der EU hervorgerunfen. Die Umarmung einer englischen, schottischen oder nordirischen Opposition und die persönliche Diffamierung englischer Politiker durch europäische Organe oder Regierungen haben die Grenzen für internationale Interventionen überschritten und die Gebote des Respekts und der Achtung für jeden Staat und seine Organe verletzt. Sie haben die gebotene Berücksichtigung besonderer Interessen Englands verweigert. Die Verfehlungen indizieren Mängel der politischen Kompetenz der EU und negieren die Anforderungen einer auf europäische Vereinigung gerichteten Politik. EU und Mitgliedsländer müssen alles daran setzen, ihre Zusammenarbeit mit England so weitgehend als möglich zu verstärken, selbst wenn eine Einigung über die Bedingungen der Mitgliedschaft in einer Gemeinschaftsorganisation nicht gelingt. Ein zwar durch einen Überhang von „Migrationshintergrund“ vorbelastetes aber durch Austritt vom Migrationsdruck deutscher Provenienz befreites England ist ein wertvollerer Partner als ein Land, das unverzichtbare Elemente seiner Staatlichkeit beschädigt. Ein England, dessen Bevölkerung wirtschaftliche Nachteile in Kauf nimmt, um sich gegen Kompetenz-Usurpationen zu verwahren, ist als Partner europäischer Vereinigung einem Land mit einer Bevölkerung vorzuziehen, der es nur um wirtschaftliche Vorteile geht. England wegen des Austritts zu rügen ist mit dem Anspruch jedes Partner europäischer Vereinigung auf Selbstbestimmung und Achtung unvereinbar. Auch und gerade ohne Staatengemeinschaft bleiben England, die EU und ihre Mitgliedstaaten auf Beziehungen angewiesen, die möglichst eng an eine Gemeinschaft heranreichen.

Aus allem vorstehenden ergibt sich: Die EU bedarf einer Wiederherstellung des Kernbestandes der Souveränität der Mitgliedstaaten und der vollen demokratischen Legitimation ihrer Beiträge zur Entfaltung der EU. Und sie bedarf auf dieser Grundlage, auch um das historisch zugehörige und im übrigen auch unentbehrliche England wieder einzuschließen und entgleitende Mitglieder wie Polen, Ungarn, Italien und Griechenland besser einzubinden, einer grundlegenden Reform nach folgenden Grundsätzen: Der ascquis communautaire muss sich auf konkret- substantielle, wirklich von den Mitgliedstaaten und -Völkern in eigener Verantwortung getragene übereinstimmende Entscheidungen und Vereinbarungen über wesentliche Politik-Inhalte und ihrer konsequenten Durchsetzung beschränken. Legitim-gewichtigen Selbstbestimmungstendenzen auf Grund nationaler oder regionaler Besonderheiten muss dabei Rechnung getragen werden, wozu beispielsweise föderative Organisationsformen dienen können. In den Bevölkerungen müssen europäischer Gemeinschaftssinn und von ihm durchdrungene demokratische Führungsstrukturen gefördert werden. Mehrheitsakte müssen dem Veto der Regierungen von Mitgliedsländern unterliegen, die zusammen einen bedeutenden, relevanten Teil der EU-Bürger vertreten. Die Kompetenzen der Kommission müssen auf Akte beschränkt werden, zu denen sie unter enger Bestimmung von Zweck, Inhalt und Vollzug durch den Ministerrat auf Grund eines inhaltlich umfassend transparenten Verfahrens unter Beteiligung der zuständigen Instanzen und der Bevölkerungen der Mitgliedsländer ermächtigt sind. Die Einfluss der Kommission auf die Generalanwaltschaft beim Europäischen Gerichtshof muss durch Institutionalisierung einer Mitwirkung von Trägern juristischer Kompetenz der Mitgliedsländer ersetzt werden.

Eine Staatengemeinschaft ist Voraussetzung, aber noch nicht Garant einer Behauptung Europas und seiner Länder. Erfolge hängen vielmehr von den Inhalten aktueller gemeinsamer Problembewältigung ab. Nach Sicherheit und Verteidigung, zu denen die EU bisher wenig handfestes beiträgt, ist eine Regulierung und Kontrolle von Immigration und Integration vordringlich. Soweit sie durch die EU nicht geleistet werden kann, müssen die Mitgliedsländer illegale Immigration über die Außengrenzen des Schengenraums, hilfsweise an den eigenen Grenzen sowie illegalen Aufenthalt ausschließen. Eine gemeinsame Befriedung des latenten (von starken Interessenten ständig neu angefachten) Verteilungsstrits um die Steuerung der Produktion und Verteilung von Gütern und Leistungen ist nächstwichtigstes politisches Ziel für Europa. Dabei ist Einigung wichtiger als Wirtschafts-Maximierung und Wachstum. Soweit der acquis communautaire der EU das Ergebnis wirklicher Einigungen der Länder und Bevölkerungen Europas über Infrastrukturbedingungen für Marktwirtschaft umfasst, ist keine bessere Gewähr für Ergebnisse verfügbar. Es bedarf aber eines massiven Abbaus einer Überregulierung und einer Rückkehr zur Verbindlichkeit klarer, hilfsweise eng ausgelegter Normen und Vereinbarungen sowie zur Haftung für ihre Einhaltung. Soweit der acquis heteronome Ergebnisveränderung und Intervention zulässt oder beabsichtigt, sind erheblilche Korrekturen am Platze, um die Leistungsfähigkeit der vorhandenen Produktions- und Verteilungseinrichtungen zu erhalten. Vor allem muss ein spezielles Konkursverfahren für Banken an die Stelle der Rettungseinrichtungen und der beabsichgtgen Bankenunion gesetzt werden. Die Rolle der Europäischen Zentralbank ist auf diejenige einer Währungsbank zurückzuführen, die von ihr veranlasste oder ermöglichte Überschuldung ist abzubauen. Auch an weitergehenden lohnenden Aufgaben fehlt es nicht.

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