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Der Griechisch-Türkische Konflikt im 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhundert im Roman.

Louis de Bernières, „Traum aus Stein und Federn“, Roman, deutsche Übersetzung aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié, S. Fischer Verlag, Copy right © 2004.

Mit seinem fesselnden Roman hat Bernières ein glaubwürdiges Bild des Geschehens im 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auf dem Balkan und in Anatolien gezeichnet. Im Kontext historischer Einschaltungen, insbesondere den Werdegangs Atatürks betreffend, und einer höchst menschlichen und gemütvollen Romanhandlung entwirft der Verfasser die Grundlage einer Deutung dieses die Region und ihre Bevölkerung verwüstenden Zeitalters. Seine Kriege und Vertreibungen haben ihren Ursprung in den von mancher Grausamkeit begleiteten (vgl. den Roman von Ivo Andric, Die Brücke über die Drina, 1945) osmanischen Eroberungen seit dem Fall von Konstantinopel (1453) und im Kampf der unterworfenen Völker um Unabhängigkeit, vor allem seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Mit der Befreiung des Balkans wollten es die Befreiten und ihre Helfer nicht bewenden lassen. Vielmehr schritt eine mächtige Allianz (Rußland, Großbritannien, Frankreich, Griechenland, Italien) wiederholt zur Invasion Anatoliens. Dabei beriefen sie sich auf ein Schutzbedürfnis anatolischer Bevölkerungsteile griechischen Volkstums, zu dessen Bedrohung die griechische Volksgruppe allerdings durch Exzesse der Befreiungskämpfe und durch den von westlichen Mächten mit hohem Einsatz unterstützten Anspruch auf Vorherrschaft zumindest erheblich beigetragen hat. Sie stützten den Anspruch auf ihren Glauben an eine überlegene Qualität ihrer eigenen Ethnie und/oder Religion, Kultur und/oder Zivilisation und an eine daraus folgende hellenische „Sendung“. Dieser Anspruch ist noch heute auf dem Grunde des Zypernkonflikts zu erkennen.

Es folgt hier eine Gegenüberstellung (mit Genehmigung der Literary Agency Paul & Peter Fritz AG und des S.Fischer-Verlages) von Auszügen aus dem Roman von Bernières (rechte Spalte) mit den wichtigsten Ereignissen der Zeit, in der er spielt (linke Spalte).
Vor dem Hintergrund des Niedergangs des osmanischen Reichs und Sultanats schreibt Bernières über die Balkankriege und die anschließenden Ereignisse in Anatolien (Seiten 316 ff.):
1821-1829 Griechischer Unabhängigkeitskrieg, in ganz Europa unterstützt (Lord Byron). 1827 Seeschlacht bei Navarino (Pylos), Türken unterliegen einer britisch-französisch-russischen Flotte. Zwischen 1821 und 1913 zog sich ein langer, unerbittlich geführter Vernichtungskrieg hin, den wir Heutigen gern vergessen und aus dem wir nicht das Geringste gelernt haben.

Im Jahr 1821, zwischen dem 26. März und Ostersonntag, schlachteten die Christen Südgriechenlands im Namen der Freiheit 15.000 griechisch-muslimische Zivilisten ab, plünderten ihren Besitz und brannten ihre Häuser nieder. Der griechische Freiheitsheld Kolokotronis prahlte stolz, es seien so viele Leichen gewesen, dass die Hufe seines Pferdes zwischen den Toren Athens und der Zitadelle nicht ein einziges Mal den Boden berührt hätten. Auf der Peloponnes wurden Tausende von Muslimen, die meisten davon Frauen und Kinder, zusammengetrieben und niedergemetzelt. Tausende von Schreinen und Moscheen wurden zerstört, sodass es heute in ganz Griechenland nur noch ein oder zwei davon gibt.

In den 1820er Jahren wurden im Zuge von serbisch- russischen Kriegen 20.000 Muslime aus Serbien vertrieben. 1827 Seeschlacht bei Navarino (Pylos), Türken unterliegen einer britisch-französisch-russischen Flotte.
1829 Friede von Edirne (Adrianopel). Griechenland unabhängig. 1832 Otto von Wittelsbach König von Griechenland, abgedankt 1862. Das Drängen Rußlands Richtung Konstantinopel führt zum Krimkrieg 1853-1856, in dem die Türkei mit Hilfe Englands und Frankreichs siegreich bleibt. 1863 wird der Däne Georg I. von Glücksburg griechischer König.
Seit 1876 erzwingt die Reformbewegung der „Jungtürken“ eine Verfassung gegen den Sultan.

1877-1878 Russisch-Türkischer Krieg. Auf dem Balkan dringen die Russen bis Konstantinopel vor, im Osten erobern sie Kars.

1878 Diktatfrieden von San Stefano (Yesilköy), korrigiert im Berliner Kongreß (Bismarck); Türkei behält Klein-Bulgarien und Mazedonien. England erhält „Besitz“ von Zypern gegen Zusage der Unterstützung der Türkei gegen Rußland (Kars, Astrahan).
1875 riefen die bosnischen Serben, orthodoxe Christen, zu einer Mordkampagne an Muslimen insgesamt und osmanischen Beamten im Besonderen auf. 1876 massakrierten bulgarische Christen die türkischstämmigen Bauern; die Zahl der Opfer ist unbekannt. Um 1877 brachten mit einer "Arbeitsteilung", die sich schon im Kaukasus bewährt hatte, Kosaken unter Mithilfe Bauern und Revolutionären das gesamte muslimische Vermögen an sich. Die Kosaken umstellten die Dörfer, sodass niemand entfliehen konnte, entwaffneten die Einheimischen und ließen sie dann von den Bulgaren abschlachten. Manchmal machte die Artillerie auch einfach die Dörfer dem Erdboden gleich und die Bewohner wurden in die Sklaverei verkauft. Europäische Diplomaten vermerkten, dass systematisch Methoden entwickelt wurden, die Frauen so langsam wie nur möglich zu Tode zu foltern. Als Folge setzte sich eine halbe Million halb verhungerter muslimischer Flüchtlinge, geeint durch die Religion, doch verschiedenster ethnischer Herkunft in Bewegung, gehetzt von Banditen, Guerillas und Soldaten. In Edirne starben täglich hundert am Typhus. In Istanbuls großer Kirche, der Hagia Sophia, damals eine Moschee, suchten viertausend verlorene Seelen Unterschlupf; dreißig starben jeden Tag, aber neue nahmen sogleich ihren Platz ein. Neben und zwischen diesen Muslimen litten und starben, fast unbemerkt von der Geschichte, die Juden, denn der übliche Schrei der Freiheitshelden jener Tage war: "Juden und Türken raus!" In Montenegro wurde die gesamte muslimische Bevölkerung vertrieben oder umgebracht. 1879 war ein Drittel der Muslime von Bosnien-Herzegowina entweder ausgewandert oder tot. Sir Henry Layard, britischer Botschafter bei der Hohen Pforte, berichtete, dass die russische Politik gezielt die Ausrottung der Muslime betreibe, um sie durch Slawen zu ersetzen.
1896-1897 Griechisch-türkischer Krieg um Kreta, den die Türkei gewinnen.

1908 vom Militär getragene Revolution (Enver Pascha, Talat Pascha), Sultanat besteht formell bis 1922 fort.
1912 erklärten Bulgarien, Serbien, Montenegro und Griechenland dem Osmanischen Reich den Krieg. Kriegsziel ist die Eroberung osmanischen Territoriums und Vertreibung seiner muslimischen Bevölkerung. Zu den bereits oben beschriebenen Taktiken kam die neue "Technik", Muslime in Scheunen oder Kaffeehäusern zusammenzutreiben und diese dann anzuzünden. Mit besonderer Brutalität wurden gefangene osmanische Soldaten behandelt. In Edirne setzte man die Gefangenen auf einer Insel aus und ließ sie verhungern. In den Geschichtsbüchern heißt es schüchtern, die Gräueltaten seien zu abscheulich, um sie zu beschreiben. In der Regel überfielen Stoßtrupps, die so genannten Komitadjis (auch Guerillas, Banditen, Briganten oder Freiheitshelden genannt), getrieben von Hass und Beutegier (auch Patriotismus genannt), die Dörfer und verjagten die Bewohner. Montenegriner verwüsteten Albanien. Die Griechen trieben die thrakischen Türken nach Osten, dann drangen bulgarische Truppen nach Süden vor und trieben sie zurück. Über eine Strecke von achtzig Meilen ließ die bulgarische Armee nur zerstörte Dörfer zurück. Nach ihrem Sieg beanspruchten Bulgaren, Griechen und Serben Mazedonien für sich, die beiden Letzteren verbündeten sich zum Krieg gegen die Ersten, und Rumänien stieß bald darauf dazu. Die Osmanen nutzten diese Zwistigkeiten zwischen den christlichen Befreiern und eroberten Edirne und Ostthrakien zurück.
Als Ergebnis der Balkankriege 1912-1913 erhält Griechenland endgültig Kreta und Teile von Mazedonien, fast ganz Epiros, ferner Thalos und die Inseln vor der kleinasiatischen Küste („Dodekanes)“. Unmöglich zu sagen, wie viele muslimische, jüdische und türkische Zivilisten in den Balkankriegen umkamen oder wie viele Soldaten fielen, aber belegt ist, dass das Osmanische Reich etwa eine halbe Million neuer Flüchtlinge aufnehmen musste. Die unablässigen Kämpfe und der nie abreißende Strom von Zuwanderern ruinierten die Wirtschaft. Ein weiteres Opfer war die größte Errungenschaft des Osmanischen Reiches, das Millet-System, das allen Bürgern Religionsfreiheit garantiert hatte. Von ein paar Augenblicken der Schwäche abgesehen, hatte das Reich durch all die Jahrhunderte seines Bestandes die verschiedenen Konfessionen geachtet, hatte ihnen gestattet, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln und ihre eigenen Gesetze aufzustellen, was ja der Grund dafür ist, dass die griechischorthodoxe Kirche überhaupt überlebt hat, geborgen im Schoß des osmanischen Staates, und die griechische Sprache und die Kultur und Religion der Byzantiner bewahrte, genauso wie die Sultane die byzantinische Verwaltung unverändert übernahmen. Nun aber hatte eine ganze Horde von kleinen Hitlers den Hexenkessel des religiösen und nationalen Hasses angeheizt, und der Balkan bekam ein neues, hässlicheres Gesicht, das er bis heute behalten hat.
1914 Die Türkei tritt dem Krieg auf Seiten der Mittelmächte bei. , Frankreich und England erklären der Türkei den Krieg. England annektiert Zypern.

Deutsche unter General Liman von Sanders helfen bei türkischer Heeres-reform. 1915 gewinnen die Türken mit deutscher Hilfe den Kampf um die Dardanellen, wo die Engländer und Franzosen gelandet waren. Auf ihrer Seite kämpfte auch ein australisches Kontingent in der Schlacht von Gallipoli (Film „Gallipoli“von Peter Weir, 1981).
Man kann annehmen, dass Enver Pascha an jenem 29. Oktober 1914, als er entweder selbst befahl oder doch seine Einwilligung gab, dass die russischen Basen von deutschen Soldaten in türkischen Uniformen, auf deutschen Kriegsschiffen mit türkischen Namen, bombardiert wurden, überzeugt war, dass er keine andere Wahl hatte als sich auf die Seite Deutschlands zu schlagen. Die Lage war einfach genug. Großbritannien und Frankreich waren alte, wenn auch anspruchsvolle Freunde der Osmanen, aber sie hatten sich mit Russland verbündet, und jeder Türke befürchtete, dass Russland nur darauf wartete, sich das ganze Osmanische Reich einzuverleiben, und zwar möglichst ohne einen einzigen Türken darin. Ein Sieg der Alliierten wäre eine blutige Katastrophe fur die Türken gewesen und für die Russen die willkommene Endlösung. Unter diesen Umständen muss es Enver Pascha klar gewesen sein, dass der Feind seines Feindes sein Freund war und dass er nur auf einen deutschen Sieg setzen konnte. Dazu galt es die Niederlagen eines ganzen Jahrhunderts auszuwetzen; und keiner kann abschätzen, inwieweit der gekränkte Stolz um seines ganzen Volkes willen ihn trieb. Jedenfalls ist es eine Ironie der Geschichte, dass sein Ehrgeiz und seine Unfähigkeit nur neues Unglück über das Land bringen sollten, denn statt einen vernünftigen Defensivkrieg zu führen, ging er sogleich zum Angriff auf die Russen in Nordostanatolien über, in undurchdringlichem Bergland und oft metertiefem Schnee. Binnen zwei Monaten waren 75.000 von 95.000 Türken umgekommen, und er hatte die gesamte Artillerie und alle schweren Geschütze eingebüßt.
Russen dringen im Kaukasus gegen die Türkei vor und bringen Armenien in ihre Hand.
Über die Vertreibung der Armenier (1915) schreibt Bernières S. 335 ff.:
Die Spannungen im Anatoliens währten schon viele Jahrzehnte. Dort lebten Armenier und Angehörige anderer Volksgruppen getrennt in eigenen Dörfern, gingen einander mit schöner Regelmäßigkeit an die Gurgel und begingen die Art von Gräueltaten, die zum üblichen Inventar all derer gehören, die der Lust am tiefen Hass auf alle anderen verfallen sind. Besonders schwierig war das Verhältnis zwischen Kurden und Armeniern, beide überzeugt von der Überlegenheit der eigenen Rasse und Religion. Die Kurden waren fanatische Anhänger des Islam, selbst wenn man bezweifeln durfte, dass auch nur je einer von ihnen ein Wort im Koran gelesen hatte, und was die Armenier betraf, so hielten sie sich für die Nachfahren Noahs und folglich für etwas Besonderes. Dabei hätten sie bei halbwegs aufmerksamer Lektüre der Bibel die offensichtliche Schlussfolgerung ziehen müssen, dass, wenn der Bericht stimmte, jeder Mensch ein Nachkomme Noahs ist. Viele Armenier forderten einen eigenen autonomen Staat, der sogar Gebiete umfassen sollte, in denen sie nicht in der Mehrheit waren. Die Kurden waren zur damaligen Zeit noch meistenteils staatstreu, und der Staat selbst war zu chaotisch, um in diesen abgelegenen und rückständigen Gebieten, wo das Leben für alle Völker gleich gefährlich und armselig war, Toleranz oder Ordnung durchzusetzen. Noch heute erzählen die Kurden dieser Gegend und die Nachkommen der Armenier die gleichen Geschichten übereinander. Diejenige, die man wohl am häufigsten hört, ist die, dass man die kleinen Mädchen in Jungenkleider stecken musste und die Frauen in Männerkleider. Die armenischen Untergrundkämpfer verdankten ihre Waffen den großzügigen Spenden russischer Armenier und erhielten Rückendeckung von England, weil die britischen Politiker sich ausrechneten, dass ein unabhängiger armenischer Staat einen ausgezeichneten Puffer gegen das Vordringen der Russen abgäbe. Jahrelang herrschte zwischen den verfeindeten Gruppen ein blutiger Bandenkrieg mit Raub und Plünderungen, angeheizt durch Schmähschriften, mit denen die Völker, die jahrhundertelang Seite an Seite gelebt hatten, gegeneinander aufgehetzt wurden. Der Staat verfolgte jetzt offiziell unter dem Etikett "Osmanisierung« eine Politik, wonach alle Völker die gleichen Rechte, Freiheiten und Pflichten haben sollten. Zu den Letzteren zählte der Militärdienst, eine Pflicht, von der an sich nur durch die Zahlung einer ebenfalls für alle gleichen Steuer befreien konnte. Die Folge davon war, dass die Armeen des Osmanischen Reiches jetzt zu einem Großteil aus widerwilligen Rekruten bestand, deren Familien das Geld für die Steuer nicht aufbringen konnten. Außerdem gab es unter den Soldaten sehr viele Armenier, die in erster Linie an der Schaffung eines unabhängigen armenischen Staates interessiert waren.
1915 Vertreibung der Armenier Die große Katastrophe des armenischen Volkes nahm ihren Anfang, als Garo Pastermadjian, ein Abgeordneter des Parlaments von Erzurum, in dem Krieg, den das Osmanische Reich im Osten gegen Russland führte, mit einem Großteil der armenischen Offiziere und Soldaten aus der 3. Armee zu den Russen überlief und anschließend mit ihnen gemeinsam muslimische Dörfer überfiel und ausplünderte. Die Osmanen schäumten vor Wut über das, was in ihren Augen Hochverrat war. Sie entfernten die verbleibenden armenischen Offiziere und Soldaten aus der 3. Armee und steckten sie in Arbeitsbataillone, wo sie wegen der extrem schlechten Bedingungen reihenweise desertierten. Schon bald zogen im Rücken der osmanischen Linien marodierende Banden von Freischärlern durchs Land, zum Teil unter dem Kommando russischer Offiziere. Ob man sie nun als Terroristen, Banditen oder Freiheitskämpfer bezeichnet, ist im Grunde nicht von Belang, da sie mühelos alles drei gleichzeitig waren. Sie unterbrachen Telegraphenleitungen, zerstörten Brücken und attackierten nicht nur Munitions- und Nachschublieferungen, sondern auch Verwundetentransporte auf dem Rückweg von der Front. Bei ihren Angriffen auf kurdische und tscherkessische Dörfer hatten sie leichtes Spiel, weil alle waffenfähigen Männer zum Militär eingezogen waren.

Am 2. Mai 1915 schickte Enver Pascha dem Innenminister Talat Bey ein fatales Telegramm,in dem es heißt, es gebe nur eine einzige mögliche Lösung für diese unerträglichen Situation: Die Armenier müssten aus den Gebieten hinter den osmanischen Linien entfernt und durch muslimische Flüchtlinge von anderswoher ersetzt werden. Im Laufe der folgenden Monate wurde diese Politik nach und nach umgesetzt; immer wieder kamen Anweisungen aus Istanbul, die jede Form von Misshandlung untersagten. Es war geplant, den Besitz der einzelnen Familien zu versteigern und ihnen das Geld zu geben, sobald sie an ihrem neuen Wohnort eintrafen, damit sie sich dort eine neue Existenz aufbauen konnten. Die Politik der Umsiedlung und Entschädigung mag auf den ersten Blick wie eine sinnvolle Lösung ausgesehen haben, aber die Regierung hatte keinerlei Einfluss darauf, was in den entlegenen Gebieten tatsächlich geschah, wo es praktisch keine funktionierenden Kommunikationswege oder Kontrollinstanzen gab. Die ganze Unternehmung war schlecht organisiert, es gab weder Transportmittel noch medizinische Versorgung, kein Essen, kein Geld, und Mitleid war ebenfalls Mangelware. In den endlos langen Vertriebenentrecks wüteten Epidemien, sie litten an Durst, Hunger und Erschöpfung und waren leichte Beute für Banditenüberfälle und für die Rache und Grausamkeit der bewaffneten Eskorten, in deren Augen sie Verräter waren. Bei diesen Truppen handelte es sich oft nicht um ordentliche Soldaten - die waren alle an der Front -, sondern um kurdische Milizen, wilde, unwissende Stammeskrieger, die allen Grund hatten, die Flüchtlinge in ihrer Obhut zu hassen.

Es lässt sich nicht abschätzen, wie viele Armenier bei den Gewaltmärschen starben. Im Jahr 1915 sprach man von 300.000, eine Zahl, die seither unter den Bemühungen wütender Propagandisten immer weiter nach oben korrigiert worden ist. Aber es ist müßig und grausam darüber zu streiten, ob 300.000 oder zwei Millionen Menschen umgekommen sind, denn beide Zahlen sind entsetzlich, und das Leid der einzelnen Opfer auf ihrem Weg in den Tod ist in jedem Falle unermesslich.
1918 Mit Ende des 1. Weltkriegs Ende des Osmanischen Reichs. England, Frankreich, Italien besetzen Teile Westanatoliens. Atatürk (Kemal Pascha) organisiert nationalen Wider-stand mit Hilfe des durch die Niederlage von 1918 geschürten türkischen Nationalgefühls.
Bernières S. 604 ff. läßt einen Soldaten vom Lande, der den ganzen ersten Weltkrieg mitgemacht hatte, über den türkisch- griechischen Krieg von 1920/22 erzählen:
1920-1922 Griechisch- türkischer Krieg. Griechen besetzen Thrakien und Westanatolien und werden von Atatürk vertrieben. Ich sehe die Bilder aus dem Feldzug gegen die Griechen. Manchmal blicke ich zurück und kann es kaum fassen, daß ich mich nach unserer Niederlage gegen die Franken Hunderte von Meilen als Bettler und Dieb durchgeschlagen habe, von Aleppo bis nach Ankara, weil ich unbedingt zu Mustafa Kemal wollte. Ich hätte heimgehen können und heiraten, aber etwas in mir wollte die Niederlage nicht hinnehmen und als ich hörte , daß die Griechen Smyrna besetzt hatten und das Mustafa Kemal eine Armee gegen sie aufstellte, machte ich mich sofort auf den Weg, und ich kam gar nicht weit von [meiner Heimat] vorbei, aber ich ging nicht in die Stadt, obwohl es leicht gewesen wäre und niemand mir einen Vorwurf gemacht hätte, und ich hätte mich leicht einer Gruppe von Partisanen anschließen können und so gegen die Griechen kämpfen, aber ich war nun einmal ein ordentlicher Soldat und kein Bandit. Aber als ich in Ankara ankam, war ich ohnehin nicht mehr in der Verfassung. zum Kämpfen. Vielleicht war ein Teil von mir schon damals verrückt, aber kein sehr großer, und das lag an all den Kämpfen und all dem Leid, das ich hinter mir hatte, aber es dauerte nicht lange, da ging es mir wieder besser, und danach versäumte ich drei Jahre lang keine einzige Schlacht. In Kilikien verjagten unsere Soldaten die Franzosen und ihre armenischen Söldner, und in Armenien bereitete General Karabekir den Armeniern eine vernichtende Niederlage, aber da war ich nicht dabei. Ich kämpfte gegen die Griechen und nahm an beiden Schlachten von Inönü teil. Ich erinnere mich noch, wie wir die Griechen schlugen und uns trotzdem zurückziehen mussten, und wie bitter das war, und ich weiß auch noch, wie uns bei Sakarya der Durchbruch durch die griechischen Linien gelang und sie hatten keine zweite Verteidigungslinie, und schließlich trieben wir sie vor uns her, quer durch das ganze Land, bis sämtliche griechische Soldaten mit ihren Schiffen abzogen, und wir rückten in Smyrna ein und dann ging es gleich weiter nach Norden, gegen die Engländer.

Es gibt da etwas, was ich immer schon sagen wollte, weil ich mich irgendwie schuldig fühle, und dieses Gefühl der Schuld ist beinahe so schlimm und beinahe so bohrend und quälend wie das Verliebtsein, es quält mich genauso wie das, was mit Philothei geschah [er hat seine geliebte - christliche (ethnisch griechische) - Braut versehentlich die Klippe hinab gestürzt]; aber für das hier habe ich eine Entschuldigung.

Die Entschuldigung ist, dass wir, als wir in Richtung Meer vorrückten und die griechische Armee vor uns hertrieben, mit ansehen mussten, wie sie alles verwüsteten und nur qualmende Trümmer zurückließen. Und die Überlebenden, denen die Flucht in den italienischen Sektor nicht gelungen war, erzählten uns grauenvolle Geschichten darüber, wie die Griechen mit unseren Leuten umgesprungen waren. Stadt für Stadt, Dorf für Dorf legten sie in Schutt und Asche, sie raubten und plünderten und verwüsteten die Felder. Ich sah so viele entsetzliche Dinge. Ich sah Kinder, die sie an Türen genagelt hatten; mit Kot besudelte Grabsteine; Moscheen, die als Latrinen benutzt wurden; Moscheen mit Bergen von Leichen, weil sie die Menschen dort zusammengetrieben und mit einer Granate getötet hatten; verbrannte Menschen, die in ihren Häusern lagen; an den Füßen aufgehängte Männer, .........[es folgen Beschreibungen, die ich nicht wiedergeben mag] ...........Ich weiß nicht, wie viele von denen, die so etwas taten, griechische Soldaten waren und wie viele Freischärler und wie viele Christen aus den Dörfern, die mit den Soldaten flohen, aber ich kann sagen, bis wir in Smyrna ankamen, da gab es nichts mehr, was wir nicht getan hätten, um das zu vergelten; da hatten wir nichts anderes mehr im Sinn als Rache, und unsere Wut kannte keine Grenzen.

Das will ich zu meiner Entschuldigung sagen. Wir hatten Order von Mustafa Kemal höchstpersönlich, dass wir uns benehmen sollten, und wer über die Stränge schlug, dem drohte die Todesstrafe, und auf den großen Plätzen hielten wir uns zurück, aber keiner konnte uns daran hindern, dass wir in die kleinen Gassen gingen und ein paar Wachen davor postierten, und dann gingen wir in die Häuser im griechischen Viertel und im armenischen Viertel, und die Offiziere konnten uns ja nicht alle gleichzeitig im Auge behalten. Wir hatten einen Korporal, dem ging es immer nur ums Vergewaltigen, und er führte uns von Haus zu Haus und überall klopften wir an die Tür, .... [auch hier möchte ich die Schilderung nicht wiedergeben] ... Einmal hatte ich einen alten Griechen niedergestochen, und das Bajonett steckte ihm noch im Bauch und er klammerte sich an den Gewehrlauf, damit ich es nicht herausziehen konnte, und wir sahen uns an und er erinnerte mich an meinen Vater, weil er auch eine gebrochene Nase hatte, und er sagte: "Du Dreckstürke, du bist nichts weiter als ein Tier.« Ich blieb ganz ruhig und sagte: "Wir machen nichts mit euch, was ihr nicht auch mit uns gemacht habt«, und er antwortete: "Und wir haben nichts mit euch gemacht, was ihr nicht vorher mit uns gemacht habt.« Ich zog das Bajonett mit einem Ruck heraus, und er strauchelte ein paar Schritte vorwärts und fiel dann auf die Knie und hielt sich den Bauch, und es sah aus, als kniee er nieder zum Gebet, und bevor er aufs Gesicht fiel, blickte er noch einmal zu mir auf und sagte: "In meinem ganzen Leben habe ich keinem Menschen etwas zuleide getan.«

Und als wir dann weiter in Richtung Norden marschierten, um gegen die Engländer ins Feld zu ziehen, gleich nachdem Smyrna in Flammen aufgegangen war, da überwältigte mich plötzlich die Scham. Mein Gesicht rötete sich, meine Ohren brannten, und ich spürte das Elend in meinem Herzen wie einen Dolchstoß, und deshalb konnte ich Philothei nicht heiraten, als ich aus dem Kriegz urückkehrte, und schob es auf; es war, weil sie eine Frau war, und nach dem, was ich miterlebt hatte, konnte ich sie nicht mehr so ansehen wie zuvor, als ich noch rein war. Ich bin Ibrahim der Wahnsinnige, früher Ibrahim der Ziegenhirte, und ich habe eine Entschuldigung für alles, und es gibt einen winzig kleinen Mann, der nicht verrückt ist, und der versteckt sich in einem Winkel in meinem Kopf.
1923 Friede von Lausanne.

Kemalistische Reformen.
1938Atatürk gestorben.



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