Deutsch-Polnische Schicksale im ostdeutschen Vertreibungsgebiet nach dem Zweiten Weltkrieg im Buch von Rutsch
Zu Hans-Dieter Rutsch, „Die letzten Deutschen“, Rowohlt Verlag Berlin 2012, 288 Seiten.
Das hervorragend geschriebene Buch berichtet von dramatischen Schicksalen von Ostdeutschen, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs in den an Polen gefallenen deutschen Ostgebieten verblieben sind. Hunderttausende haben in kleineren und größeren Gemeinden und Gemeinschaften ihr Leben am bisherigen Ort fortgesetzt und für Polen optiert. Andere in den neuen Westgebieten Polens Verbliebene haben sich außerhalb solcher Gemeinschaften mit Polen verehelicht oder isoliert durchgeschlagen, einige davon unter Beibehaltung ihrer deutschen Identität. Noch andere wie die „Wolfskinder“, die gegen Kriegsende in Deutschland Eltern und Verwandte verloren haben und manchmal lange Zeit unversorgt und bettelnd umhergeirrt sind - bilden ein Beispiel für die unglaubliche Zähigkeit des Menschen, unter widrigsten Bedingungen zu überleben, die Bescheidenheit, Empathie und Hilfsbereitschaft anmahnt. Das Zusammenleben von Polen und Deutschen war und ist belastet durch die millionenfachen Übeltaten, die im Kontrast zur friedlichen Eindeutschung Schlesiens im Hochmittelalter und zu Beginn der Neuzeit Deutsche und Polen einander vor allem seit Ende des Ersten Weltkriegs angetan haben. Sie lasten auf Ländern und Menschen mit dem zusätzlichen Gewicht, das die wohl doch ungewöhnlich tiefe Liebe der Schlesier zu ihrem Land und ihre jahrhundertelange Kultivierung dieses Landes vermitteln. Zu dieser Last gehört das Leid von Millionen Vertriebener Ostdeutscher und ihr Gefühl, in einem Recht auf Heimat verletzt zu sein. Hinzu tritt das entsprechende Leid der millionenfachen Vertreibung von Polen durch das stalinistische Regime nach Westen bis in die bis dahin deutschen Gebiete hinein. Die Übeltaten und das Leid dürfen nicht vergessen werden, weil sie Anstrengungen herausfordern, ähnliches zu verhindern. Es ist aber ein Verdienst des Buches von Rutsch, ihnen Beispiele der Menschlichkeit, Toleranz, Symbiose und Liebe zwischen Polen und Deutschen in der aus deutscher Sicht finstersten Periode ostdeutscher Geschichte im Oderland und in Ostpreußen gegenüberzustellen. Deutsche mussten für das Verbleiben mit Selbstverleugnung und/oder Unterwerfung und Erniedrigung zahlen. Der Preis war je nach den Umständen des Verbleibens unterschiedlich. In vielen Fällen war er extrem hoch und bezeugt die erwähnte besondere Heimatliebe. Der Preis wurde aufgewogen durch beglückende Beziehungen und dadurch, daß Polen, die sich mit Deutschen verbanden, Spannungen mit ihren Landsleuten auf sich nehmen mussten. Gutnachbarlichen Beziehungen zwischen Deutschen und Polen gehören zum existenziellen Bedarf beider Völker. Zwar nimmt das Gewicht der erwähnten historischen Lasten und der traditionellen deutschen Verbundenheit mit den ehemals deutschen Ostgebieten in dem Maße ab, in dem deutsche Vertriebene im Westen einheimísch geworden sind und aussterben und die neuen, polnischen Siedler und ihre Nachkommen das Land „erwerben, um es zu besitzen“, nämlich aufbauen, bebauen, pflegen und nutzen. Damit schwinden Grundlagen für deutsche Besitzansprüche jeder, auch „moralischer“ Art reziprok zum Aufbau der Voraussetzungen für dauerhaften Frieden. Trotz Ausbaus des politischen und wirtschaftlichen Austausches und Öffnung der Grenzen bleibt aber die Nähe und Tiefe der deutsch-polnischen Nachbarschaft noch hinter derjenigen zwischen Deutschland und anderen Nachbarn zurück. Das Buch von Rutsch trägt zu einer weiteren Annäherung bei, indem es daran erinnert, dass enge menschliche Beziehungen zwischen Polen und Deutschen in jeder Breite und Tiefe jederzeit möglich sind. Das Buch von Rutsch läßt trotz verbreiteter Unkenntnis und Interessenarmut „Restdeutschlands“ an Ostpreußen, Ostpommern, Ostbrandenburg und Schlesien eine bleibende und vielfach praktizierte deutsche Verbundenheit mit diesen Gebieten erkennen. Sie ist gutnachbarlichen Beziehungen nicht hinderlich sondern förderlich, denn sie besteht in neidloser Teilnahme gerade auch vertriebener Deutscher am Wohlergehen des polnischen Landes Schlesien. Ihr entspricht ein gar nicht so überraschendes Bedürfnis vieler schlesischer Polen, sich die deutsche Vergangenheit Schlesiens zu eigen zu machen. Das wird sich auszahlen, auch für eine zunehmende deutsch-polnischen Symbiose. Die deutsch-polnische Auseinandersetzung über Oberschlesien nach Ende des Ersten Weltkriegs, zu deren Verständnis das Buch beiläufig beiträgt, ist historisch überholt. Sie bleibt jedoch aktuell als Lehrstück für die Bewältigung von Friedensstörungen in aller Welt: In mehreren heute die Welt erschütternden Konflikten geht es wie damals um religiös verschärfte Auseinandersetzungen unterschiedlicher Ethnien, die im selben Raum siedeln und bereit sind, ihr Leben für Selbstbestimmung einzusetzen. In solchen Lagen geht es nicht um Recht und Rechthaben sondern es gibt es nur die Option einer Abwägung zwischen Integration, Kompromiss, Teilung oder Kampf bis zur Aufgabe einer Seite, wobei negative Auswirkungen auf verschiedene Weise, zum Beispiel durch Land- und Bevölkerungsaustausch gemildert werden können. Die schlesische Teilung von 1921 erscheint nicht als Ergebnis einer weisen Abwägung, wenn man bedenkt, daß sich ethnische Polen niemals gehindert sahen, zur Elite des Ruhrgebiets beizutragen, und dass die katholische Minderheit in preußisch-Schlesien nicht über Diskriminierung zu klagen hatte, obwohl ihre Kirche den Protestanten in der Gegenreformation arg zugesetzt hat. Auch der Berufung auf den Bismarck’schen Kulturkampf ist entgegenzuhalten, daß sich dieser nicht gegen Konfessionen und schon gar nicht gegen Ethnien sondern auf Trennung von Staat und Kirche richtete, die zu den großen, vielleicht auch künftig entscheidenden Errungenschaften politischer Weisheit gehört. Maßgeblich für die Teilung von 1921 war vielmehr allein das Machtwort der siegreichen Völkerbundstaaten über die Rivalität zwischen Polen und dem besiegten Deutschland um den Besitz eines bedeutenden Industriegebiets. Christian Heinze |