Schriften zum öffentlichen Recht Band 1232
Der Staat im Recht, Festschrift für Eckart Klein zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Marten Breuer, Andreas Haratsch, Stefanie Schmahl, Norman Weiß
Duncker & Humblot. Berlin 2013
Das Mehrheitsprinzip
von Reinhard Mussgnug
"Die demokratische Gesinnung der Mehrheit erkennt man daran, wie sie ihre
Minderheiten behandeln." Diesen Lehrsatz verdanken
wir Mahatma Gandhi. Leider
hat uns Gandhi nicht überliefert, wie er ihn hat verstanden wissen wollen. Die
Kreise, die ihn zu zitieren lieben, führen ihn jedenfalls nicht im Munde, um die
Mehrheit zum selbstbewußten Überstimmen der Minderheit zu ermuntern. Im Gegenteil:
Sie sehen in Gandhis Vermächtnis die Ermahnung an die Adresse der
Mehrheit, konsequent auf genau die Macht zu verzichten, die ihr die Demokratie
anvertraut. Diese Kreise glauben mit anderen Worten, dass ein guter Demokrat die
Minderheit niemals überstimmt, sondern ihr stets und in allem bereitwillig folgt.
Das klingt zwar political correct, ist aber gleichwohl Unsinn. Dennoch sollte
man es ernst nehmen. Es fördert die politische und soziale Integration der Minderheiten,
wenn die Mehrheit ihnen mit Konzessionsbereitschaft entgegenkommt.
Wer die Erfüllung eines jeden Wunsches einer jeden Minderheit zum kategorischen
Imperativ der Demokratie erhebt, schießt jedoch weit über das Ziel hinaus. Wollte
seine Formel die Mehrheit wirklich dazu anhalten, ihre demokratische Gesinnung
durch prinzipielles Abstimmen zugunsten der Minderheit unter Beweis zu stellen,
so wäre Gandhi entgangen, dass es sowohl auf dem rechten, als auch auf dem linken
Flügel des politischen Spektrums und selbst in seiner Mitte Minderheiten gibt, die
wegen der Fragwürdigkeit ihrer Anliegen eher beherzte Zurückweisung als beflissene
Unterstützung verdienen. Diesen Minderheiten sollten aufrechte Demokraten
besser nicht zu Willen sein. Es ist schließlich einer der Vorzüge der Demokratie,
dass sie diese Minderheiten von der Macht fernhält.
Dessen war sich gewiß auch Gandhi bewußt. Er hat jedoch den Begriff "Minderheit"
in einer allzu undifferenzierten Weise gebraucht. Seine Formel berücksichtigt
zu wenig, dass es zwei Arten von Minderheiten gibt:
- die rein quantitativen, die sich von der Mehrheit durch nichts als durch die geringere
Zahl lhrer Anhänger unterscheiden;
- diejenigen. die sich zusätzlich zu ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit durch eine
bestimmte Eigenschafi von rechtlicher Relevanz, z. B. durch ihre ethnische
Identität, ihre Sprache, ihre Religion, ihre soziale Zugehörigkeit etc., abheben.
Nur für die zweite dieser beiden Kategorien besitzt Gandhis Formel uneingeschränkte
Plausibilität. Diesen Minderheiten garantieren Recht und Verfassung
unverletzbare Rechte: Autonomie, Gebrauch ihrer Sprache, Ausübung ihrer Religion,
vollen Genuss aller staatsbürgerlichen Rechte, Schutz vor Diskriminierung.
Die Missachtung dieser Rechte ist ein schwerer Rechtsbruch. Aber "undemokratisch"
ist nicht das richtige Adjektiv für die Kränkung der Minderheitsrechte. Das
korrekte Wort für die Mißachtung der Minderheitsrechte heißt "rechtsstaatswidrig".
Darauf zu bestehen, ist keine Juristen-Pedanterie. Es dient der Klarheit der BegrifTe
und schärft den Blick sowohl dafür, was "Demokratie" und "Rechtsstaat" bedeuten,
als auch dafür, wie sie zusammenspielen.
Bei der anderen Erscheinungsfom der Minderheit - der rein quantitativen - zielt
Gandhis Formel dagegen weit daneben. Diese Minderheiten sind kurz gesagt und
nur mäßig vereinfacht die Verlierer der letzten Wahlen. Statt "Minderheit" sollten
wir sie besser "Opposition" nennen. Ihnen die Teilhabe an der politischen Macht zu
versperren, entspricht der raison d'être der Demokratie. Darum entspricht es keineswegs
der demokrätischen Pflicht und Schuldigkeit der Mehrheit, den Minderheiten
auf Schritt und Tritt Zugeständnisse zu machen. In der Demokratie regiert
die Mehrheit. Die Minderheit hat das Recht, von ihr gehört zu werden. Das Recht
von ihr erhört zu werden, hat sie nicht.
Das kommt in Gandhis Mahnung nicht klar genug zum Ausdruck. Sie vernachlässigt,
dass die wohlverstandene Demokratie die Mehrheit nicht zurückdrängt,
sondern sie zum Souverän krönt. Aus diesem Grunde dürfen wir nicht nur von den
Minderheitsrechten reden. Wir müssene ebenso im Auge behalten. dass die Demokratie
auf dem Mehrheitsprinzip beruht, und dass aus diesem Grunde die Mehrheit
keineswegs unmoralisch handelt, wenn sie ihre Macht beherzt zum Überstimmen
der Minderheit nutzt.
Demokratie bedeutet Volksherrschaft. Ihre Einsetzungsworte "Alle Staatsgewalt
geht vom Volke aus" verlangen, dass jedes Handeln der öffentlichen Gewalt sich
vom Volke herleitet.
Diese Anbindung des Staatshandelns an den Volkswillen begründet die Stärke
und zugleich die Schwäche der Demokratie. Denn das Volk ist von Natur aus uneinig.
Die Verschiedenheit seiner Meinungen, seiner wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Interessen, die Pluralität seiner politischen Parteien, seiner Verbände,
Religionen, Philosophien, Berufe, seiner regionalen Eigenheiten und nicht zuletzt
der nie endende Konflikt zwischen arm und reich, jung und alt, Mann und Frau,
anspruchsvoll und bescheiden erlauben politische Entscheidungen, hinter denen das
Volk einmütig und geschlossen steht, wenn überhaupt, so nur unter exzeptionellen
Umständen. Auf Einstimmigkeit ist daher nicht zu hoffen, und deshalb kann das
demokratische Verfassungsrecht Einstimmigkeit nicht zur Voraussetzung des
demokratischen
Entscheidens erheben. Wäre Einstimmigkeit die Bedingung des demokratischen
Handelns, so wäre die Demokratie handlungsunfähig.
Daher kann die Demokratie nur bestehen, wenn sie den Volkswillen nach dem
Mehrheitsprinzip definiert. Es ist das Mehrheitsprinzip, das den homerischen
Bannfluch gegen die Demokratie löst "Selten tut Vielherrschaft gut, einer sei
König, einer Herrscher allein" (1). Dieses Prinzip formt den nicht zu
identifizierenden Willen aller - in den Worten Rousseaus die volonté de tous -
um in den identifizierbaren Volkswillen, die volonté générale.
Wie Art.20 Abs. 3 GG sagt, spricht das Volk seinen Willen "in Wahlen und
Abstimmungen" aus. Dass bei diesen "Wahlen und Abstimmungen" das Mehrheitsprinzip
den Ausschlag gibt, stellt Art. 20 Abs. 3 GG nicht ausdrücklich klar.
Aber das gehört zu jenen Selbstverständlichkeiten des demokratischen
Verfassungsrechts,
die auch ohne ausdrückliche Anordnung gelten. Ebenso selbstverständlich
ist, dass für die Mehrheit das Minimum von einer Stimme über 50 %
ausreicht. In manchen Fällen gibt es gute Gründe, sich damit nicht zufrieden zu
geben, sondern eine sogenannte "qualifizierte Mehrheit", etwa von 2/3, zu fordern.
Aber die qualifizierte Mehrheit ist mitnichten demokratischer als die kleinste
denkbare Mehrheit von 50 % + l. Denn qualifizierte Mehrheiten installieren
"Sperrminoritäten", die sich mit der Grundidee der Demokratie ganz und gar nicht
vertragen. Darauf wird zurückzukommen sein.
Wer die kleinstmögliche Mehrheit von nur einer einzigen Stimme erreicht, ist
zur demokratischen Herrschaft legitimiert. Wer diese Mehrheit auch nur um eine
einzige Stimme verfehlt. muss sich mit der beschwerlichen Rolle des Opponenten
bescheiden. Er darf die Mehrheit kritisieren, bekämpfen, ja verdammen, aber er hat
sich ihr unterzuordnen. "Mehrheit ist Mehrheit" rechtfertigen wir das, seit Konrad
Adenauer im September 1949 mit der Mehrheit von nur einer Stimme zum ersten
Kanzler der Bundesrepublik gewählt worden ist. Auch diese hauchdünne Mehrheit,
die er sich eingestandenermaßen mit seinere eigenen Stimme gesichert hat, hat ihn
zur Kabinettsbildung und dazu berechtigt, dem Nachkriegsdeutschland den Weg in
die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu weisen.
Dass auch eine dünne Mehrheit eine Mehrheit ist, gehört zu den ehernen
Prinzipien
der Demokratie. Hinderte es die Mehrheit an der Verwirklichung ihres politischen
Programms, wenn eine verfassungsrechtlich festgelegte Sperrminorität ihr
widerspricht, so schlüge die Demokratie um in eine Oligarchie, in der diese Sperr-
Minorität die dominante Rolle spielt. Ein Minderheitenschutz, der die Rechte der
Mehrheit zum Handeln nach ihrem Willen beschneidet, mag gut gemeint sein. Aber
wir dürfen ihn nicht akzeptieren, weil er das demokratische Regierungssystem
verfälscht und, wenn wir ihn auf die Spitze treiben, sogar zerstört.
Deshalb ist Gandhis Lehrsatz falsch. Die richtige Formel lautet: "Die demokratische
Gesinnung der Mehrheit erkennt man daran, wie selbstbewußt sie ihren
Kurs steuert." Es ist ihr unentziehbares Recht, ihre zahlenmäßige Überlegenheit zu
nutzen. Eine Mehrheit, die davor zurückschreckt, hat die Demokratie nicht begriffen.
Das alles klingt minderheitsfeindlich und wäre es auch, wenn es bei
dem Axiom
"in der Demokratie ist die Mehrheit der Souverän" sein Bewenden fände. Dann
wandelte die Demokratie Ludwig XIV. despotisches "L'etat, c'est moi" in der Tat
lediglich um in ein kaum minder despotisches "L'etat, ce sommes nous". Es ist
jedoch nicht das Ziel des Mehrheitsprinzips, die Minderheiten wehrlos einer tyrannischen
Unterdrückung, Diskriminierung und Mißachtung durch die Mehrheit
auszuliefern. Dass es dazu nicht kommen kann, stellt die strikte Bindung der
Mehrheit an das Rechtsstaatsprinzip sicher.
Demokratie und Rechtsstaat sind siamesische Zwillinge. Die Demokratie
schützt
die Mehrheit vor der Tyrannei der Minderheiten: sie vertraut der Erfahrung, dass
mehr Augen mehr sehen, und mißtraut den Minderheiten, die dazu neigen, fehlgeleitet
durch ihre eigenen partikulären Interessen die Belange des Volkes in seiner
Gesamtheit zu verkennen. Das Rechtsstaatsprinzip schützt demgegenüber die
Minderheiten vor der Tyrannei der Mehrheit; es vertraut der Macht des Rechts und
mißtraut der Mehrheit, weil die Geschichte lehrt, dass die Mehrheit keineswegs stets
eine Bastion der Weisheit und Gerechtigkeit ist, sondern, wenn sie ihren Verstand
verliert, wie das die Mehrheit der Deutschen 1933 getan hat, sehr wohl in Wahnsinn
und Verbrechen verfallen und zum Tyrannen entarten kann.
Aus diesem Grund haben wir es uns angewöhnt, dem Substantiv "Demokratie"
stets das Adjektiv "rechtsstaatlich" und dem Substantiv "Rechtsstaat" stets das
Adjektiv "demokratisch" hinzuzufügen oder wenigstens hinzuzudenken. Das ist
schwer ins Englische zu übertragen. Die Übersetzer der EU behelfen sich mit
"constitutional democracy". Das trifft den Nagel zwar nicht genau auf den Kopf.
Aber es hat sich herumgesprochen, was es meint: Die deutschen facons de parler
"rechtsstaatliche Demokratie" und "demokratischer Rechtsstaat", bei denen das
Attribut "rechtsstaatlich" klarstellt, dass das Mehrheitsprinzip durch die Rechte der
Minderheiten gebändigt wird, welche die Mehrheit bei all ihrem politischen Entscheiden
und Handeln gewissenhaft zu beachten hat.
Das ist im Grunde banal. Trotzdem verdient es, in Erinnerung
behalten zu werden.
Das dialektische Zusammenspiel von Demokratie und Rechtsstaat liefert den
Wegweiser, den wir brauchen, um die Grenze ziehen zu können zwischen dem
weiten Feld, auf dem das Mehrheitsprinzip der Politik Raum für ein freies
Schalten
gewährt, und dem deutlich engeren, auf dem die Politik die rechtlichen Grenzen
einzuhalten hat, mit denen das nationale Verfassungsrecht und das internationale
Recht die Minoritäten vor der allgegenwärtigen Gefahr schützen, von der Mehrheit
unterdrückt zu werden. Dieses Zusammenspiel zieht zugleich auch die Grenze
zwischen den politischen Fragen, die durch Abstimmen nach dem Mehrheitsprinzip
entschieden werden, und den Rechtsfragen, die von den Gerichten nach Gesetz und
Recht sowie in den komplizierten Verfahren geklärt werden müssen, die den Prozeß
des gerichtlichen von dem des politischen Entscheidens unterscheiden.
Die Unterscheidung zwischen dem politischen Entscheiden und dem
Entscheiden
nach Recht und Gesetz bildet den Kern der rechtsstaatlichen Demokratie. Wir
verrieten die Demokratie, wenn wir uns über sie hinwegsetzten, wie das Pontius
Pilatus getan hat, als er das Volk von Jerusalem über das Leben von Jesus und
Barabbas abstimmen lies. Pilatus vergaß, dass Rechtsfragen unter keinen Umständen
dem Plebiszit der öffentlichen Meinung und auch nicht dem ihrer Repräsentanten
in den Parlamenten überantwortet werden dürfen. Die rechtsstaatliche Demokratie
verlangt für Rechtsfragen die Entscheidung "due process of law".
Es gehört zu den Merkwürdigkeiten unserer Zeit, dass sich nach wie vor immer
wieder "Demokraten" vom Schlage des Pilatus mit der Parole zu Wort melden
"Man kann nicht gegen die Mehrheit regieren!" Sie hätten ohne Zweifel Recht,
wenn sie "regieren" im eigentlichen Sinne dieses Wortes meinten. Aber das tun sie
nicht. Sie protestieren gegen die rechtlichen Bindungen der Politik und fordern
"Flexibilität" im Umgang mit ihnen, mit anderen Worten also die Geringachtung
des Rechts. Sie mißbrauchen das Mehrheitsprinzip, um die rechtsstaatliche Bindung
der Politik an Recht und Verfassuns aus den Angeln zu heben (2).
Das ist freilich nur eine der Gefahren, vor der wir uns im
Zusammenhang mit
dem Mehrheitsprinzip hüten müssen. Eine nicht minder gravierende Gefahr droht
von der Unklarheit, wie die jeweils ausschlaggebende Mehrheit zu berechnen ist.
Denn die erwähnte Formel "50 % + l" läßt im Dunkeln, worauf sich ihre ominösen
50 % beziehen: Auf alle, die zur Abstimmung aufgerufen sind, oder nur auf diejenigen,
die tatsächlich an ihr teilnehmen?
l. Mit einer unanfechtbaren Mehrheit haben wir es nur dann zu tun.
wenn sie
mehr als die Hälfte aller Abstimmungsberechtigten ausmacht. Das nennen wir die
"absolute Mehrheit". Das Verfassungsrecht begnügt sich jedoch in aller Regel mit
der Mehrheit derer, die sich an der Abstimmung beteiligen. Diese relative Mehrheit
kann fragwürdig ausfallen. Eine Wahl mit einer Beteiligung von unter 50 % kreiert
z.B. keine Repräsentation des Volkes in seiner Gesamtheit. Selbst wenn sämtliche
Stimmen auf eine Partei oder - bei einer Präsidentenwahl - auf einen Kandidaten
entfallen, so steht hinter den oder dem Gewählten nur eine Minderheit, im
schlimmsten Fall eine sehr kleine Minderheit. Wer bei einer Präsidentenwahl mit
einer Wahlbeteiligung von nur 25 % und ein paar Stimmen mehr als der Hälfte der
abgegebenen Stimmen erhält, kann sich schwerlich brüsten, der Repräsentant seiner
gesamten Nation zu sein. Hinter ihm steht lediglich gerade eben ein Achtel des
Wählervolks; sieben Achtel haben ihm die kalte Schulter gezeigt. Nichts desto trotz
akzeptieren die meisten Verfassungen auch eine solche Wahl als gültig.
Verträgt sich das mit dem Mehrheitsprinzip ? Erlaubt das Mehrheitspnnzip
wirklich, Parlamentsmehrheiten, Regierungen und Staatsoberhäupter zu inthronisieren,
denen die Mehrheit der Wählerschaft mit ihrem Fernbleiben von der Wahl
oder mit der Abgabe eines leeren Stimmzettels ihre Ablehnung bekundet hat? Geht
es um die Wahl der leitenden Staatsorgane, so bleibt wenig anderes übrig, als vor
dieser beunruhigenden Situation eines nur neugewählten, aber nicht hinreichend
legitimierten Staatsoberhaupts oder Parlaments und der von ihm gebildeten Regierung
zu kapitulieren. Wo das Verfassungsrecht das tut, bleibt es den Betroffenen
überantwortet, einen Ausweg.zu finden, sei es mit der Ablehnung ihrer wenig
überzeugenden Wahl oder - sofern das Verfassungsrecht es zulässt - mit dem
Herbeiführen baldiger Neuwahlen. Bessere Lösungen gibt es nicht. Ich jedenfalls sehe
keine.
2. Bei den Plebisziten der direkten Demokratie gilt es allerdings, genauer hinsehen.
Hier ist die Gefahr besonders akut, dass eine kleine Schar engagierter
Steckenpferd-Reiter einer überwältigenden Mehrheit Desinteressierter ihren Willen
aufzwingt. Denn es versteht sich, dass die Unterstützer eines jedweden Referendums
geschlossen mit "ja" stimmen werden. Die dissentierende Mehrheit dagegen wird
nicht etwa ebenso geschlossenm mit "nein" stimmen, sondern zu einem grossen Teil
die Last des Gangs zur Urne scheuen. So kann es zum Triumph einiger weniger
Votanten über eine überwältigende Mehrheit der Stimmverweigerer kommen. Dass
dies ein wohlverdienter Sieg der Agilität über die politische Lethargie wäre, wird
zwar immer wieder behauptet. Aber das beruht auf einem Missverständnis des
Mehrheitsprinzips, das nicht auf die Mehrheit der Betriebsamen, sondern auf die
Mehrheit des Volkes in seiner Gesamtheit abstellt und auch diejenigen mitzählt, die
nicht gewillt sind, sich fortwährend zu Abstimmungen über Dinge kommandieren
zu lassen, die sie bei den von ihnen gewählten Repräsentanten in guten Händen
glauben.
Wer das Mehrheitsprinzip ernst nimmt, muß dem Rechnung tragen. Deshalb hat
sich eingebürgert, den Erfolg der Plebiszite nicht einfach von der relativen Mehrheit
der Abstimmenden, sondern von einer bestimmten Mindestzahl von Stimmen, dem
sogenannten Quorum, abhängig zu machen. Die Saarländische Landesverfassung
ist darin besonders konsequent. Sie verlangt für einen erfolgreichen Volksentscheid
die Zustimmung von mehr als der Hälfte der Stimmberechtigten (3), damit stellt sie
sicher, dass es im Saarland kein Plebiszit gegen die Volksmehrheit gibt. Die übrigen
Bundesländer sind weniger streng. Baden-Württemberg und Mecklenburg fordern
ein Quorum von 33,3 % der Stimmberechtigten (4). Standard ist ein Quorum von 25 %
der Stimmberechtigten (5).
Selbst der Standard von %25 wird freilich unterboten. Das bremische und
das
hamburgische Quorum betragen 20 % (6), das nordrhein-westfälische l5 %. Rheinland-
Pfalz geht in raffiniert verklausulierter Diktion noch tiefer: Art. 109 Abs.4
seiner LVerf beziffert das Quorum zwar mit den üblichen 25 %, er meint aber nicht
etwa das gängige Viertel des stimmberechtigten Wählervolkes; das rheinlandpfälzische
Quorurn ist vielmehr schon dann erfüllt, wenn sich mindestens ein
Viertel der Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligt. Rheinland-Pfalz
ebnet den Volksabstimmungen daher schon dann den Weg zum Erfolg, wenn sie
lediglich von der bescheidenen Minderheit von einer Stimme mehr als der Hälfte
von einem Viertel der Gesamtbevölkerung getragen werden. Das heißt im Klartext:
Für den Sieg bei den rheinland-pfälzischen Volksabstimmungen reichen bezogen
auf die Gesamtzahl der Stimmberechtigten 12,5 % + 1 aus. Das als demokratische
Mehrheit auszugeben wirkt kühn.
Bayern, Hessen und Sachsen sind freilich noch großzügiger. Sie kennen
beim
Plebiszit überhaupt kein Quorum, so dass de iure selbst eine minimale Beteiligung
ausreicht und - bezogen auf die Gesamtbevölkerüng - sogar Zustimmungsraten im
Promille-Bereich genügen. Eine bestimmte Mindestzahl von Unterstützern, verlangen
Bayern, Hessen und Sachsen nur bei den ihren Volksabstimmungen vorausgehenden
Volksbegehren. Bei der eigentlichen Abstimmung dagegen gilt eine
trügerische Version des Mehrheitsprinzips, die negiert, dass der Begriff "Mehrheit"
einen Bezugspunkt braucht.
"Die Mehrheit" als solche gibt es nicht. Wer von "der Mehrheit" spricht,
denkt
stets an die Mehrheit einer bestimmten Menge. Der Mathematiker, der mit Modellen
arbeitet, darf diese Menge nach Gutdünken abgreifen. Der Jurist indessen, der
die Spielregeln der demokratischen Mehrheitsentscheide festzulegen hat, darf das
nicht. Für ihn gewinnt die Definition des Bezugspunkts, auf den sich die bei Wahlen
und Abstimmungen ausschlaggebende Mehrheit bezieht, eine verfassungsrechtliche
Dimension. Er muss sich an das halten, was die Grundgedanken der Demokratie
dem aus ihnen abgeleiteten Mehrheitsprinzip vorgeben. Allem voran verpflichten
ihn die Idee der Volkssouveränität und die mit ihr untrennbar verbundene Vorstellung
vom Volk als einer nicht aufspaltbaren Gesamtheit.
Das verbietet Mehrheits-Konstruktionen, die verkappten
Minderheitsentscheiden
Vorschub leisten, keineswegs kategorisch. Dass sie bei den Wahlen der
Verfassungsorgane nicht zu vermeiden und daher hinzunehmen sind, wurde bereits gesagt.
Hier gebietet der Zwang, die staatlichen Leitungspositionen zu besetzen, Abstriche
von der Reinerhaltung des Mehrheitsprinzips. Bei den Plebisziten indessen besteht
kein solcher Zwang. Das Staatsleben geht auch dann weiter. wenn sie scheitern.
Dann ist der Versuch einer Entscheidung auf dem Wege der direkten Demokratie
mißlungen; die indirekte Demokratie der Volksrepräsentation durch Parlament und
Regierung tritt wieder in ihr Recht. Kein Grund also für Großzügigkeiten.
Dennoch werden solche Großzügigkeiten immer wieder und mit ständig
wachsender Vehemenz gefordert. Die Gegner des Bahnhofs-Neubaus in Stuttgart
haben sich damit besonders hervorgetan. Sie waren sich sicher, bei der Volksabstimmung
vom 27. November 20ll zwar die Mehrheit der abgegebenen Stimmen
zu erhalten, fürchteten aber das Quorum von 33,3 % der Stimmberechtigten (8).
Deshalb haben sie lautstark auf eine Abschaffung dieses Quorums gedrungen. Sie
bedienten sich der altbekannten Argumente: Das Aushebeln der "Mehrheit" durch
Quoren sei undemokratisch; in der Demokratie komme es auf die Engagierten an,
die für ihre Überzeugungen kämpften; die Uninteressierten, Indifferenten zählten
nicht; wer nicht ausdrücklich "nein" sage, sage damit "ja", etc. etc. Sonderlich
überzeugend klang das alles nicht. Demokratie bedeutet Herrschafi des gesamten
Volkes, nicht Herrschaft der Geschäftigen, der Lauten und der Aufgeregten. Deshalb
kommen demokratische Referenden nicht ohne ein auf die Gesamtzahl der
Abstimmungsberechtigten bezogenes Quorum aus.
Ich halte schon das baden-württembergische Quorum von 30 % für einen
Kompromiß, erst recht das in den meisten anderen Bundesländern gültige von nur
25 %. Nimmt man es mit dem Mehrheitsprinzip genau, so verlangt es ein Quorum
von 50 %, wie es im Saarland gilt. Gleichwohl wird man es der Gestaltungsfreiheit
des Verfassungsgebers zugestehen müssen, niedrigere Quoren einzuführen. 25 %
sind indessen die äußerste Grenze. Was darunter liegt, verfälscht mit dem
Mehrheitsprinzip
einen der Angelpunkte der Demokratie. Es läuft auf eine Perversion des
eingangs angesprochenen Gandhi-Diktums hinaus: Die demokratische Gesinnung
der Mehrheit erkennt man daran, wie ungehindert sie die Minderheiten mit ihren
Plebisziten schalten läßt. Diese allzu nonchalante Sicht der Dinge hat sich, wie die
Lage in Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz und Sachsen zeigt, bereits zu viel Bahn
gebrochen. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und Art. 84 Abs. 3 Satz 1 GG verpflichten den
Bund, dem entgegenzutreten.
Es gäbe noch weit mehr zum Mehrheitsprinzip anzumerken. Aber dafür fehlt
hier der Raum. Als Letztes sei daher lediglich die verbreitete Geringachtung
knapper Mehrheiten und der Drang angesprochen, ihnen mit dem Bestehen auf
qualifizierten Mehrheiten die Wirksamkeit abzuschneiden.
Wir neigen dazu, eine Mehrheit als umso überzeugender einzuschätzen,
je größer
sie ausfällt. Das hat einen wahren Kern. Als Italien und Belgien am Ende des
Zweiten Weltkriegs über ihre Monarchie abstimmten, wären beide mit einer deutlicheren
Mehrheit, in Italien für die Republik, in Belgien für die Monarchie, besser
gefahren. Die knappen Mehrheiten, die sich in beiden Nationen stattdessen ergaben,
konnten die royalistischen Passionen in Italien ebensowenig dämpfen wie in Belgien
die republikanischen. Erfahrungen wie diese nähren den Wunsch nach qualifizierten
Mehrheiten für jede bedeutsamere politische Entscheidung.
Aus diesem Grund verlangt Art. 19 Abs. 2 GG für Verfässungsänderungen im
Bundestag wie im Bundesrat eine 2/3 Mehrheit. Das leuchtet auch ohne weiteres
ein. Aber die politischen Parteien haben im Laufe der letzten drei Dekaden gelernt,
davon einen höchst fragwürdigen Gebrauch zu machen: Angefeuert von Interessengruppen
greifen sie populäre Postulate auf und treten für deren "Verankerung
in der Verfassung" ein. So kam 1994 mit Art. 20a der Tierschutz in das Grundgesetz;
er steht seither in einer wenig durchdachten Konkurrenz mit dem Grundrecht der
Wissenschaftsfreiheit. Zur Zeit wird über die verfassungsrechtliche Festschreibung
der Sport- und Kultur-Förderung diskutiert, die beiden in den Haushaltsverhandlungen
der Zukunft eine gegen Kürzungen abgeschottete Sonderstellung verschaffen
würde.
Derartige Aufnahmen politischer Anliegen in die Verfassung sind wegen der
erforderlichen qualifizierten Mehrheit nicht gerade leicht zu erreichen. Sind sie aber
erreicht, so fällt es ebenso schwer, sie zu korrigieren. Das macht das "Verankern"
politischer Entscheidungen in der Verfassung bedenklich. Es untergräbt die demokratische
Grundregel, nach der die Mehrheit stets nur zur Herrschaft auf Zeit berechtigt.
Wäre es unbegrenzt erlaubt, politische Fragen statt durch einfaches Gesetz
durch Verfassungsänderung zu regeln, so könnten kurzlebige 2/3-Mehrheiten Entscheidungen
treffen, die die einfachen Mehrheiten künftiger Wahlperioden nicht
mehr ändern können. Das Mehrheitsprinzip gilt daher für diese Entscheidungen nur,
wenn sie in der Verfassung festgenagelt werden. Für ihre Änderung indessen tritt es
außer Kraft. Wo qualifizierte Mehrheiten gefordert sind, geht die Macht auf die
Sperrminoritäten über, die ohne eigene Mehrheit alles zu blockieren vermögen, was
ihnen nicht gefällt .
Das lehrt, dass das Verlangen nach qualifizierten Mehrheiten nicht
der demokratischen
Weisheit letzter Schluß ist. Qualifizierte Mehrheiten haben ihren guten
Sinn, wenn es um Grundsatz-Entscheidungen von bleibendem Gewicht geht, die die
Politik langfristig binden sollen. Sie taugen jedoch nicht für das
Alltagsgeschäft der
Gesetzgebung, das nur dann in den Bahnen der Demokratie verläuft, wenn das
Prinzip der einfachen Mehrheit es vor den Blockaden schützt, denen sie das
überbordende
Verlangen nach qualifizierten Mehrheiten aussetzen würde.
Fußnoten
1) Ilias Buch II 204/5: οὐκ ἀγαθὸν πολυκοιρανίη: εἷς κοίρανος ἔστω.
2) Das deckt schon der Bericht des Evangelisten Matthäus über das
Pilatus-Plebiszit auf. Es lohnt, ihn nachzulesen: "Pilatus sprach zu
ihnen: Was soll ich denn machen mit Jesus, von dem gesagt wird er sei
Christus ? Sie sprachen alle: Laß ihn kreuzigen! Der Landpfleger sagte:
Was hat er denn Übles getan? Sie schrieen aber noch mehr und sprachen:
Laß ihn kreuzigen !" (Matthäus 27, 22 f.).
3) Art . 100 Abs. 3 LVerf: "Das Gesetz ist durch Volksentscheid beschlossen,
wenn ihm mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten zustimmt."
4) Art. 60 Abs. 5 der LVerf BW und Art. 60 Abs. 4 Satz 1 LVerf MePo.
5) Dieses Quorum gilt in Berlin. Brandenburg. Niedersachsen, Sachsen-Anhalt.
Schleswig-Holstein und Thüringen.
6) In Hamburg mit einer Sonderregelung für den Fall, dass der
Volksentscheid zugleich mit einer Bürgerschaftswahl stattfindet; dann gilt
der Stimmanteil der Regierungs-Koalition bei der vorausgegangenen
Bürgerschaftswahl als Quorum (Art. 48 LVerf).
7) Dabei gelten auch in Bayern, Hessen und Sachsen Quoren, die
Volksentscheiden ohne jeden Rückhalt bei der Gesamtbevölkerung vorbeugen.
In Bayern muss das Volksbegehren von l0 % der Stimmberechtigten unterstützt
werden (Art. 7l Abs. 1 LWahlG), in Hessen von einem Fünftel (also von 20 %;
Art. 124 Abs. 1 LVerf) und in Sachsen von 15 % (§ 22 des
Gesetzes über Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid). Unterstellt
man, dass sämtliche
Unterzeichner der Volksbegehren deren Anliegen auch beim Volksentscheid
unterstützen werden, so besteht allerdings nur in Hessen kein allzu
dringender Anlaß zu Bedenken. Von
Bayern und Sachsen, wo der Volksentscheid von nur l0 % bzw. l5 % erwirkt
und dann in aller Regel auch durchgesetzt werden kann, sehen die Dinge
anders aus. Diese beiden Länder gehen
gemeinsam mit Rheinland-Pfalz, was das Zulassen von "Volks"-Entscheiden
durch kleine
Minderheiten angeht, deutlich weiter, als dies dem Grundverständnis der
Demokratie - die direkte Demokratie eingeschlossen - entspricht.
8) Bei der Abstimmung vom 27. Nov. 2011 sind sie freilich nicht am Quorum,
sondern
daran gescheitert, dass sie nur 1.507.961 (41,1% ) Stimmen erhalten haben,
ährend die Befürworter des Neubau-Projekts auf 2.160.41I (58,9 %) Stimmen
gekommen sind.
9) Für sie hatten 54,3 % votiert.
10) Insgesamt 57,68 % haben für die Rückkehr des Königs gestimmt. Aber
das hat den
Konflikt zwischen den Royalisten und den Republikanern und die Spaltung
Belgiens in Flamen und Wallonen nur vertieft. Denn in Wallonien hielten
die Gegner der Monarchie mit 58 % und in Brüssel mit 52 % die Mehrheit;
in Flandern dagegen behaupteten sich die Royalisten mit 72 %.