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Vorabend des Brexit. Kampf um EU in vollem Gange.

Eine "sub-page" zur Seite pro-re-publica.eu von Christian Heinze vom 28.3.2019.


Auf den Austrittsantrag des Vereinigten Königreichs tritt ohne Einigung über Post-Brexit-Kooperationsregeln in wenigen Tagen jedenfalls derjenige Teil des Europarechts außer Kraft, der an die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs anknüpft.

Es ist womöglich noch nicht gründlich geprüft, ob und in welchem Umfang in nationales Recht des Vereinigten Königreichs und der Mitgliedsstaaten umgesetztes EU-Recht mangels solcher Anknüpfung trotz Brexit in Kraft bleibt, wenn es nicht durch besonderen Rechtsetzungsakt aufgehoben wird. Von einem automatischen Außerkrafttreten von Umsetzungsrecht dürfte kaum auszugehen sein.

Soweit umgesetztes EU-Recht außer Kraft tritt, ist die Rechtslage für den Wirtschafts- und sonstigen Post-Brexit-Verkehr zwischen dem Vereinigten Königreich, der EU und anderen Ländern durch internationale Verträge ausreichend geklärt, auch soweit die Beteiligten danach frei sind, ihre Teilnahme an diesem Verkehr nach ihrem Gutdünken (neuen) Vereinbarungen zu unterwerfen oder ungeregelt zu lassen. Diese Rechtsänderung ist offensichtlich mit schweren Nachteilen für die EU als Ganzes und mit Vor- und Nachteilen für ihre Mitgliedsländer und für das Königreich verbunden.

Sinn und Zweck einer Vereinigung Europas ist die Förderung und Sicherung von Wohlstand, der in innerer und äußerer Sicherheit, innerer Freundschaft und äußerem Frieden, in internationaler Selbstbehauptung und guter wirtschaftlicher Versorgung besteht. Dazu gehört der Ausgleich vorgegebener Spannungen etwa zwischen Nord- und Südeuropa, zwischen West- und Osteuropa, zwischen großen und kleinen Nationen, zwischen dem Ganzen und seinen Teilen. Ohne die Einbindung des Vereinigten Königreichs mit seinem politischen und wirtschaftlichen Gewicht, das demjenigen der anderen führenden Staaten Europas ähnelt, reichen die Kräfte und Verhältnisse zu einer Annäherung, nicht aber zu einem dauerhaft tragfähigen Ausgleich aus.

Alle Beteiligten beschwören das Ziel europäischer Vereinigung. Danach oblag es der EU und dem Vereinigten Königreich, im Gesamtinteresse am positiven Ergebnis der europäischen Vereinigung seit Gründung der Europäischen Gemeinschaften und an einer Fortsetzung des Vereinigungsprozesses, nach Kräften auf Vermeidung des Brexit hinzuwirken. Das haben die EU und auch das Vereinigte Königreich versäumt.

Einerseits ließ die EU Erwägungen vermissen, ob nicht Änderungen der EU-Politik zugunsten britischer Interessen, seien sie geltend gemacht worden oder objektiv erkennbar, zur Vermeidung des Austritts geboten waren. Dafür kamen unter anderem sinnvolle aber strengere Regulierung europäischer Freizügigkeit oder eine Rationalisierung innerer und äußerer Umverteilungen verschiedener Art oder die Wiederherstellung der Subsidiarität von EU-Recht in überregulierten oder mangelhaft regulierten Bereichen in Betracht, zumal alldas schon im Interesse europäischer Vereinigung geboten ist. Andererseits versäumte das Vereinigte Königreich eine gründliche Überlegung, ob nicht verstärkten Bemühungen dieser bedeutenden Macht um Reformen der EU von innen heraus im Vereinigungsinteresse einem Austritt vorzuziehen gewesen wären. Angesichts der Bedeutung der Vereinigung für seine eigene Zukunft hätte es für England auch nahegelegen, seine Bedingungen für eine Fortführung der Partnerschaft vor dem Austritt gründlicher zu erwägen, konkret zu formulieren und seinen Partnern mitzuteilen.

Ebenso hätte es den Partnern oblegen, für den Fall des Brexit die damit verbundenen Nachteile durch Vereinbarung von Regeln zu minimieren, die wegfallendes Recht ersetzen. Zu diesem Zweck musste jede Partei rechtzeitig als Verhandlungsgrundlage genügend konkrete Vorschläge für realistische Regelungen entwerfen, die in ihrem Interesse liegen und deren Vereinbarkeit mit den Interessen der anderen Seiten nahe liegt, oder die als Bedingung für die Akzeptanz von Regelungen durch den anderen Partner in Betracht kommen. Auch das haben sowohl das Vereinigte Königreich als auch die EU versäumt.

Zwar sind in Verhandlungen der Austrittspartner Bedingungen einer Art Zollunion als Vereinbarungsentwurf formuliert worden. Die EU besteht jedoch bis heute auf Bedingungen für die Beendigung einer solchen Union, die mit der Staatlichkeit des Partners unvereinbar. Sie müssten zu dauernden und gefährlichen Streitigkeiten innerhalb des Vereinigten Königreichs und mit Bezug auf sein Verhältnis zum restlichen Europa führen. Andererseits ließe die Vereinbarung die schwerwiegenden historischen Gefahren für den Frieden unbewältigt, die im Fall einer Kündigung der Zollunion wiederaufleben würden. Schließlich ist die Tragweite der Bedingungen der Zollunion im einzelnen unübersehbar.

Obwohl beide Brexit-Parteien mit einem Teil des bisher geltenden EU-Rechts zur Unterhaltung eines gemeinsamen Marktes, des Kernbestandes der EU, offenbar ganz gut leben können, sind ernsthafte Bemühungen beiderseits unterlassen worden, diesen gegebenenfalls zu modifizierenden Teil in einer Post-Brexit-Vereinbarung zusammenzufassen, die mit den Interessen aller Beteiligten vereinbar ist. Es ist kaum bekannt geworden, dass konkrete Interessen betroffener Produktions- und Handelsunternehmen oder Erkenntnisse ihrer Verbände oder führender Experten als Träger oder Kenner dieser Interessen in Brexit-Verhandlungen einbezogen worden wären. Mit des größeren Interessenfächers und der breiteren Erkenntnisressourcen auf Seiten der EU ist deren besondere Verantwortung angesprochen.

Sucht man nach den Ursachen dieses Ablaufs, so stößt man zuerst auf die vorbehaltlose Ablehnung von Reformvorschlägen durch die EU, die das Vereinigte Königreich etwa mit Bezug auf Migration und Subsidiarität des EU-Rechts bereits seit der Jahrtausendwende gemacht hat. Einerseits blieben sie aber vage und wurden wenig nachhaltig geltend gemacht. Andererseits offenbart die Weigerung der EU, sie auch nur zu diskutieren, eine verhängnisvolle Unterschätzung des Maßes der für den Prozess einer Einigung Europas und für legitime Verbindlichkeiten souveräner Staaten erforderlichen inhaltlichen Einigung. Die EU-Bürokratie setzt sich mit ihrem Führungsanspruch über dieses Erfordernis hinweg, verblendet durch Überschätzung einer idealen, sich selbst nährenden Zentralisierungsdynamik und durch die Wunschvorstellung eines von Inhalten unabhängigen Anspruchs auf bundestreue Gefolgschaft. Weitere Ursache für den desaströsen Verlauf ist das auf demselben Irrtum beruhende Unterfangen der EU, dem Vereinigten Königreich die Bedingungen zukünftiger Beziehungen de facto zu oktroyieren.

Hinzu trat der diffuse Politik-Impuls, der vom britischen Brexit-Volksentscheid ausging. Der Anwendungsfall bestätigt die Untauglichkeit sogenannter direkter Demokratie für die Lösung grundlegender und komplexer Probleme überhaupt. Im Fall des Brexit konnten nicht einmal seine wichtigsten Folgen für die britische Wirtschaft und Gesellschaft oder für die Außenbeziehungen des Landes insbesondere zu Irland, geschweige denn konnten Möglichkeiten zu ihrer Bewältigung ins Bewusstsein vieler Teilnehmer und Nichtteilnehmer am Referendum gelangen und von ihnen gewürdigt werden. Maßnahmen zur Bewältigung konnten nicht einmal ansatzweise in das Referendum einfließen. Vielmehr führte ein umfangreicher Regelungsbedarf und die Entwicklung entsprechend vielfältiger und teils widersprüchlichen Vorstellungen und Forderungen zu einer Überforderung die Parteiendemokratie (Parlament und Regierung). Die erforderlichen konsens- und tragfähigen Entscheidungen konnten nicht entwickelt werden.

Die EU hat als Reaktion auf den Austrittsantrag auf Grund ihrer erwähnten Irrtümer versucht, autoritäre Vorgaben an die Stelle detaillierter Vereinbarungen zum Ausgleich unterschiedlicher Interessen zu setzen. „Bedingungen für den Austritt“, von denen in der aktuellen Diskussion des Brexit viel die Rede ist, kann die EU dem Vereinigten Königreich zwar nicht stellen, denn sie kann den Austritt nicht verhindern. Das schließt aber nicht aus, dass der Bluff gelingt.

Wohl aber könnte das Vereinigte Königreich Bedingungen nennen, unter denen es bereit wäre, den Austrittsantrag zurückzunehmen. Eine solche Rücknahme dürfte entgegen im Vereinigten Königreich vertretener Auffassung auch verfassungsrechtlich wirksam möglich sein. Eine allgemeinen Abneigung gegen einen Widerruf, die unklare und umstrittenen Haltung der Regierung, die unklaren Machtverhältnisse im Parlament und die Zerrissenheit der öffentlichen Meinung des Königreichs haben aber am 27.3.2019 zu ihrer Ablehnung geführt. Sie wäre aber auch für Europa nicht wünschenswert gewesen, weil zum Austrittswunsch des Vereinigten Königreichs tatsächlich schwerwiegende Defizite der EU-Politik mit Bezug auf Freizügigkeit, die Finanz- und Wirtschaftslage, den nationalen und internationalen sozialen Ausgleich und das Subsidiaritätsgebot der EU-Verfassung beitragen. Eine Rücknahme des Austrittsantrags würde eher zu einer Stagnation von Bemühungen zum Abbau dieser Defizite beitragen.

Bei Niederschrift dieser Anmerkungen ist der Brexit-Prozess noch nicht abgeschlossen. Ernsthafte Verhandlungen über die Verbindung und den Ausgleich britischer und resteuropäischer Interessen hat noch nicht einmal begonnen. Der von der EU oktroyierte „May-Deal“ kann mit dem und womöglich auch ohne den sogenannten „Irish backstop“ (auf dem die EU bisher unbedingt besteht) nicht als solcher Ausgleich gelten. Kommt er nicht zustande und bleibt es beim Austritt, so werden Verhandlungen erst wirklich aktuell, die Vereinbarung aber auch recht dringlich und von Tag zu Tag dringlicher. Die Aussichten auf nachhaltige Einigungen nehmen aber mit dem Wirksamwerden des Austritts zu, weil tatsächliche oder vermeintliche Druckmittel und Präjudizien entfallen, so dass die Sachprobleme und die wirkliche Interessenlage in den Vordergrund treten.

Sollte eine Vereinbarung zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU über die Verschiebung des nach Art. 50 EUV auf den 29.3.2019 fallenden Zeitpunkts der Wirksamkeit des Austritts zustande kommen sein, so bestünde die bisherige Mitgliedschaft rechtlich bis zu dessen Ende fort. Ohne gleichzeitige Einigung über die Post-Brexit-Verhältnisse würde das Ringen um deren Bedingungen unter Verminderung des Termindrucks fortgehen. Die Entscheidung läge weiterhin teils beim britischen Parlament, teils bei der EU. Da in einer Verlängerung ein Verzicht auf Rücknahme des Austrittsantrags gesehen würden könnte, wäre die Verhandlungsposition der EU und die Aussicht auf Durchsetzung des „May-Deals“ gestärkt.

Wie auch immer der Brexit ausgeht und welche Folgen er auch immer hat, wie sehr er auch immer den Prozess einer Vereinigung Europas zurückwirft, bleibt das in seiner Bedeutung für die Zukunft Europas kaum zu hoch einschätzbare Interesse aller Europäer an dessen Fortsetzung unter Einschluss des Vereinigten Königreichs bestehen.

Zur Illustration dieses Interesses mag man sich einen europäischen Verteidigungsfall ausdenken und sich fragen, unter welchen Bedingungen ein englischer Soldat wohlmotiviert zum Kampf an die Weichsel, die Donau, die Elbe oder den Rhein ziehen würde. Die Frage wäre mit Hilfe eines Vergleichs dieser Bedingungen mit denjenigen zu beantworten, die am Tage nach dem Brexit herrschen.

Voraussetzung nachhaltiger europäischer Vereinigung ist ein Rückzug aus dem Irrweg, in den sich die EU und ihre Mitgliedsländer begeben (und damit einen Impuls für den Brexit erzeugt) haben, seit sie von den Maßgaben stabiler Staatlichkeit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie einer optimal leistungsfähigen aber sozialen und zugleich freiheitlichen Wirtschaftsordnung abgewichen sind. Konkret sind Manöver zur illegitimen Errichtung eines Bundesstaates und nationalen Entstaatlichung zugunsten des Ausbaus der Einrichtungen und Verfahren zur Erarbeitung substanziell-konkreter europaweiter Einigungen nach dem Grundsatz der Subsidiarität aufzugeben. Vorrang haben gemeinsame Anstrengungen zum Schutz äußerer und innerer Sicherheit. Die Einigung auf ein gemeinsames, vorgegebenen Unterschieden Rechnung tragendes Grundkonzept für die Produktion und Verteilung von Gütern und Leistungen in Europa ist Voraussetzung für die erforderliche Sanierung des europäischen Haushalts-, Geld-, Währungs-, Kredit- und Umverteilungswesens und damit für nachhaltigen Wohlstand und Frieden in Europa.

(Dazu auch Brexit, Brexit aktuell und Brexit in process (En)).


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