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2014 11 12

Missverständnis der Daseinsvorsorgelehre als "Nazi"-Akquisition. Ein offener Brief an Professor Gerd Habermann.
Misunderstanding of a Theory of Public Economic Services as "Nazi"-Acquisition. An open letter to Professor Gerd Habermann (in German language only)

Von Rechtsanwalt Dr. Christian Heinze, München.

Sehr geehrter Herr Professor Habermann,

Mit viel Zustimmung habe ich Ihren Beitrag "Blick auf Deutschlands Verkehrsplanwirtschaft" (Rezension des Werks von Günter Ederer und Gottfried Ilgmann, "Deutschland im Stau", Berlin 2014) in der NZZ vom 2. Oktober 2o14 gelesen. Die in ihr enthaltene Wendung, Daseinsvorsorge sei ein Begriff von Hegel, "den die Nazis dann aufgegriffen haben", ist allerdings zur Diskreditierung der verwaltungsrechtlichen Lehre von der staatlichen Daseinsvorsorge geeignet. Denn während die Nazis alle politisch wichtigen Begriffe "aufgegriffen" haben, deutet die Feststellung ihres "Aufgriffs" eines bestimmten Begriffs auf dessen besondere Nähe zur NS-Ideologie hin. Gegen eine solche Diskreditierung möchte ich mich wenden. Der Begriff wurde von Ernst Forsthoff mit seiner Schrift "Die Verwaltung als Leistungsträger" (Stuttgart und Berlin 1938) in die Rechtslehre eingeführt. Forsthoff hat darauf aufmerksam gemacht, dass der staatlichen Verwaltung als Folge der Erweiterung des "effektiven Lebensraums" Leistungs-Aufgaben zugefallen sind, auf die das herkömmliche, dem Verhältnis von Eingriff und Freiheit gewidmete Verwaltungsrecht nicht paßt. Das damit eröffnete Thema, ist seither Gegenstand einer umfangreichen Beschäftigung der öffentlichen Verwaltung, der Gesetzgebung und der Verwaltungs(rechts)wissenschaft geworden. Die "Nazis" haben hier einen Sachverhalt vorgefunden, der seine Eigendynamik ganz unabhängig von der NS-Ideologie entfalten mußte. Forsthoff ist sogar während der NS-Zeit von Kollegen der "Vorwurf" gemacht worden, er habe mit seiner Lehre versucht, die Grundrechte durch die Hintertür wieder einzuführen.

Das Thema war in anderem Zusammenhang vor kurzem Gegenstand der Bemerkung eines anderen Kommentators, Daseinsvorsorge sei "naziüberlagert". Dazu hat sich auf meine Bitte ein befreundeter Kollege (1) mir gegenüber wie folgt geäußert: "Daß die Daseinsvorsorge „naziüberlagert“ sei, kann man m.E. nicht sagen. In dem Begriff schwingt zwar ein Oberton von Kollektivismus mit ('Führer und Volksgemeinschaft sorgen für uns alle'). Aber Forsthoff hat gerade das nicht hervorgekehrt, sondern es im Gegenteil beiseite geschoben. Für ihn waren der Staat, die Gemeinden sowie die Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts die geborenen Träger der Daseinsvorsorge. Es ging um die Verortung auch in der Leistungsverwaltung in der rechtlich geordneten Staatlichkeit, und genau das war den Nazis zuwider. Die setzten – wie nach 1945 auch die Kommunisten – auf die Volksbeglückung durch ihre Partei- Organisationen. Forsthoffs Version der Leistungsverwaltung war ihnen bei weitem zu dezidiert auf Teilhaberechte des Individuums abgestimmt, wie sie den Diktatoren verhaßt sind, die lieber Geschenke verteilen möchten." Ich glaube, dass man auf Tendenzen, den Daseinsvorsorgebegriff nazistisch einzufärben, kaum zutreffender entgegnen kann.

Allerdings hat der weite Wortsinn des Ausdrucks "Daseinsvorsorge" auch anderwärts zu Missverständnissen der Lehre von der staatlichen Daseinsvorsorge geführt. Um dem entgegenzuwirken, habe ich versucht, mit meinem Aufsatz "Daseinsvorsorge im Umbruch" in den Bayerischen Verwaltungsblättern (2004 S. 33-40) an die der Lehre von Forsthoff gegebene Richtung zu erinnern.

Es mag sein, daß der Aspekt einer zwangsläufig staatlichen Daseinsvorsorgeverwaltung, der sich beispielsweise bei regional- netzgebundenen Leistungen des Massenbedarfs zeigt, nicht die besondere Aufmerksamkeit von Friedrich A. von Hayek gefunden hat, obwohl er sich der Notwendigkeit staatlicher Wirtschaftssteuerung unter bestimmten Bedingungen keineswegs verschlossen hat (vgl. etwa das 15. Kapitel seines Werks "Die Verfassung der Freiheit", Tübingen 1971, S. 285-98). Sie haben seine Lehre in Ihrer Rezension unter anderem mit dem Hinweis aufgegriffen, daß die "irrationalen Finanzströme im öffentlichen Nahverkehr ... ein ... düsteres Kapitel" sind. Dazu darf ich auf Bemühungen hinweisen, die vorwiegend theoretische Arbeit der F.-A.-von Hayek-Stiftung in der Praxis zu ergänzen durch Hinwirken auf ein richtiges Verhältnis zwischen Marktwirtschaft und staatlicher Daseinsvorsorge durch Bindung staatlicher Intervention an den Nachweis konkreter überwiegender öffentlicher Interessen und insbesondere von Subventionen an den Nachweis eines optimalen Preis-Leistungsverhältnisses (vgl. unter anderem meinen Kommentar zum Personenbeförderungsgesetz, 2. Aufl. München 2014 zusammen mit Michael Fehling und Lothar Fiedler, insbes. Vorbemerkungen I und II).

Mit freundlichen Grüßen
Christian Heinze

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(1) Professor Reinhard Mussgnug, Heidelberg


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