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Ticker - Verhältnis Deutschland-Türkei
von/by Dr. Christian Heinze
- Kontakt/Contact - Stand dieser Seite: 17./21.3.2017


Die aktuelle Behinderung der Agitation türkischer Politiker mit Bezug auf Verfassungspläne des türkischen Präsidenten Erdogan durch staatliche Organe Deutschlands ist (jedenfalls) ein politischer Fehler. Am Platze wären stattdessen sachliche und umfassende Darstellungen und Diskussionen der Gründe, aus denen befürchtet wird, dass die von Erdogan vorgeschlagene Verfassung eine für die Türkei, ihre internationalen Verhältnisse oder für Deutschland schädliche Entwicklung einleiten würde.

Im einzelnen:

- Die fragliche Behinderung und die zu erwartenden Reaktionen beschädigen das Verhältnis zwischen Deutschland und Europa einerseits und der Türkei andrerseits . Sie stärken Tendenzen zu einer Abwendung der Türkei von der westlichen Friedenspolitik im Nahen Osten und zu ihrer Zuwendung an Mächte, die dem Westen ablehnend gegenüberstehen.

- Der Behinderung steht das Demokratieprinzip entgegen. Die Gefahr von gewaltsamen Zusammenstößen politischer Gegner kann den Agitations-Vorhaben nicht entgegengehalten werden, weil ihre Verhinderung angesichts der deutschen Grundrechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit Aufgabe der deutschen Polizei ist.

- Die Behinderung der Agitation hat auch angesichts der praktisch unbeschränkbaren medialen Präsenz türkischer Agitatoren in Deutschland, keine Aussicht auf nennenswerte Wirkung.

- Sie ist entgegen ihrer Absicht geeignet, die Einstellung der Erdogan- Unterstützer zu verhärten.

- Die hier befürwortete sachliche Analyse obliegt allen Quellen politischer Meinungsbildung, insbesondere den politischen Parteien, aber auch der Bundesregierung. Sie dient zugleich der notwendigen vorbeugenden Vorbereitung politischer Entscheidungen, die Deutschland im Fall einer Durchsetzung von Plänen Präsident Erdogans zu treffen hat.
Professor Christian Tomuschat hat in einem in der FAZ vom 7.3.2017 abgedruckten Beitrag zum "Türkischer Wahlkampf auf deutschem Boden" Stellung genommen. Der Beitrag scheint nicht geltend zu machen, dass Wahlkampf türkischer Politiker auf deutschem Boden völkerrechtswidrig wäre. Ein Verstoß gegen deutsches Recht wird nicht behauptet *). Tomuschat sagt aber, es bestünden "völkerrechtliche Bedenken". Danach bleibt es zulässig, solchen Wahlkampf aus politischen Gründen trotz der Bedenken zu gestatten. Dennoch nennt Tomuschat das Ansinnen türkischer Amtsträger, solchen Wahlkampf zu führen, einen Affront. Dafür beruft er sich darauf, dass solche Wahlkämpfe von Amtsträgern auf dem Boden fremder Länder international nicht üblich sind. Zu diesem Argument muss schon angesichts der globalen medialen Entfaltung ein Fragezeichen angebracht werden, ganz abgesehen von den von Tomuschat nicht übersehenen innereuropäischen Üblichkeiten. Jedenfalls ist die Bewertung als Affront, wenn denn Unüblichkeit eine solche Bewertung überhaupt begründen sollte, jedenfalls im konkreten Fall nicht überzeugend. Denn Deutschland lässt zu, dass 1,4 Millionen deutsche Staatsbürger zugleich die türkische Staatsangehörigkeit besitzen. Damit dürfte unvereinbar sein, Wahlkampf auf deutschem Boden um ein türkisches Verfassungsreferendum als Affront zu bezeichnen oder zu beschränken. Das muss dann auch für türkische Politiker gelten. Dass sie zugleich Amtsinhaber sind, entspricht der innerdeutschen demokratischen Praxis.

Übrigens haben wohl alle deutschen Staatsangehörigen die Meinungsfreiheit, am Referendumskampf teilzunehmen. Auch deutsche Politiker nehmen das Recht in Anspruch. Vielleicht lässt sich sogar feststellen, dass die deutsche Regierung Einfluss nimmt, und es kann fraglich sein, ob solche Einflussnahme mit den von Tomuschat erwähnten völkerrechtlichen Verboten vereinbar ist. Vor allem gibt deutsche Meinungsfreiheit Deutschland und den Deutschen Gelegenheit zur Darlegung, weshalb die zur Wahl gestellte Verfassungsreform für die Türkei oder Deutschland oder sonst für schädlich gehalten wird. Das wäre der einzige demokratisch legitimierte und unter den gegebenen Umständen für Deutschland politisch rationale Weg zu ihrer Verhinderung.

Nach neuesten Pressemitteilungen soll die das Verfassungsprojekt unterstützende türkische Regierungspartei AKP auf Referendumskampf auf deutschem Boden nun gänzlich verzichten wollen. Das könnte angesichts der hier diskutierten Vorgänge den Befürwortern der Verfassungsänderung eher Auftrieb geben.
Aus einer übergreifenden, langfristige Wirkungen ins Auge fassenden Sicht vermehrt der Vorgang die vielfältigen aktuellen Anlässe, das Verhältnis „des Westens“ und insbesondere Deutschlands zur Türkei und darüber hinaus den zwischenstaatlichen Umgang überhaupt (beispielsweise mit Bezug auf den „Brexit“ und die jüngste US-Präsidentenwahl) gründlich zu überdenken.

- Dabei sollte einerseits von freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei im 20. Jahrhundert,

- und andererseits muss von den schweren Benachteiligungen der Türkei durch postkoloniale, meist gewaltsame Entfaltung westlicher Mächte ausgegangen werden. Noch heute wirksam und daher einzubeziehen sind die westlichen Versuche zur gewaltsamen Unterwerfung Anatoliens in den 1920er Jahren in Ausnutzung der Schwäche der Türkei während des Zusammenbruchs der Osmanenherrschaft. Ein Ausläufer dieser „Politik“ ist die bis heute anhaltende Diskriminierng und Nötigung der türkischen Volksgruppe auf Zypern mit Hilfe von Verträgen, die 1960 von England, Griechenland und der griechisch-türkischen Volksgruppe mit der türkischen Volksgruppe und der Türkei geschlossen worden sind, in Verbindung mit der Akzeptanz „des Westens“ ihres Bruchs durch den griechischen Partner (1963 ff.). Zu berücksichtigen ist die Nichteinhaltung völkerrechtlicher Verträge von 1927, 1963 und 1970 über Freizügigkeit der türkischen Arbeitnehmer insbesondere auch durch Deutschland. Zusammengefasst: es bedarf der Wiederherstellung einer Kultur der Vertrags- und Rechtstreue.

- Zur Entfremdung der Türken vom „Westen“ tragen weitere historische Vorgänge bei. Präsident Erdogan erwähnte jüngst die Untätigkeit von Schutztruppen des Westens im Angesicht in ihrer Gegenwart ausgeübter „politischer“ Massenmorde an Muslimen (Bosnien 1995). Hierher gehören allgemein antiislamische Reaktionen auch in Deutschland auf Verbrechen islamistischer Fanatiker. Hierher gehören auch negative Bewertungen der türkischen Geschichte durch europäische Staatsorgane, die geeignet sind, von der heutigen türkischen Bevölkerung auf sich bezogen zu werden.

- Die europäischen Regierungen werden gut daran tun, aus Anlass der türkischen Entfremdung ihre eigenen inneren Verhältnisse und insbesondere ihr grundsätzliches Verhältnis zu Vertrag, Recht, Demokratie, Gewaltenteilung und Grundrechten, nämlich sowohl ihrer Wirksasmkeitsbedingungen als auch ihrer Grenzen einer kritischen Revision zu unterziehen. Sie sind Nährboden und Hintergrund auch für andere aktuelle Krisen und Gefahren.
*) Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster hat mit Beschluss vom 29.7.2016 (15 B 876/16) in einem Eilverfahren lediglich entschieden, dass das Verbot einer Video-Zuschaltung von Präsident Erdogan zu einer Versammlung in Deutschland mit deutschem Recht und insbesondere mit dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit vereinbar ist. Einen Antrag auf einstweilige Anordnung zur Suspendierung des Verbots hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 30.7.2016 (1 BvQ 29/16) abgelehnt mit der Begründung, eine gegen den Beschluss des OVG Münster eingelegte Verfassungsbeschwerde habe mit der ihr gegebenen Bründung keine Aussicht auf Erfolg. Die hier zitierten Entscheidungen gehen auf die Frage nach Folgerungen aus einer doppelten deutsch-türkischen Staatsbürgerschaft nicht ein.

Merke: Nicht alles was man darf und möchte ist auch nützlich, gut und richtig.


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